: Bei Abc-Schützen herrscht Sprachnotstand
■ Rund die Hälfte aller ErstkläßlerInnen in Wedding benötigt Förderunterricht, ein Zehntel dieser SchülerInnen ist nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Diese Ergebnisse hat eine erstmals in B
Erstmals ist in Berlin eine Untersuchung über die sprachlichen Fähigkeiten von ErstkläßlerInnen durchgeführt worden. Untersuchungsgebiet: Wedding. Und die Ergebnisse sind alarmierend. In den Weddinger Grundschulen herrscht Sprachnotstand; das ergibt die sogenannte Sprachstandsmessung aller Weddinger SchülerInnen in den 1. Klassen.
Aufgrund von Sprachschwierigkeiten benötigen 46 Prozent aller ErstkläßlerInnen zusätzlichen Förderunterricht. 11 Prozent dieser Problemkinder sind kaum in der Lage, dem Unterricht zu folgen, und sollten deshalb intensive Deutschkurse besuchen – 1 Prozent davon sind Kinder deutscher Herkunftssprache.
80 LehrerInnen haben rund zwei Monate alle ErstkläßlerInnen auf ihren aktiven und passivem Wortschatz und ihre Hör-und Sprechfertigkeiten hin untersucht. Von den 1.594 Kindern sind etwa zwei Drittel nichtdeutscher Herkunftssprache. Die SchülerInnen bekamen in der zwanzigminütigen Erhebung Bilder vorgelegt, auf denen sie einfache Gegenstände erkennen und benennen mußten. Außerdem sollten sie alltägliche Situationen beschreiben und nacherzählen.
„Die überprüften SchülerInnen erreichten im Gesamtdurchschnitt 79 von 100 Punkten“, sagt Andreas Pochert, pädagogischer Berater für interkulturelle Angelegenheiten in Wedding und Koordinator der Erhebung. „Das ist viel mehr als erwartet, doch die Einzelergebnisse zeigen, daß eine sehr große Zahl der Lernanfänger erhebliche Sprachprobleme hat.“ Insbesondere zeigt sich das Problem bei den Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache. Während die Leistungen der deutschen Kinder 10 Prozent über dem Gesamtdurchschnitt lagen, liegen sie bei Nichtdeutschen, die fast alle in Deutschland geboren wurden, um 7 Prozent unter dem Durchschnitt. Gerade im Sprachbereich sind diese Leistungen erheblich schlechter: Dort liegen sie 21 Prozent unter dem Gesamtdurchschnitt. „Die Kinder können Gegenstände benennen, aber keine vollständigen Sätze bilden“, sieht Pochert als gravierendes Problem. So kennen sie zum Beispiel das Wort „Blume“, können aber nicht sagen: „Die Blume ist schön und riecht gut.“
Ein weiteres Ergebnis der Sprachstandserhebung ist, daß ein Kindergarten- oder Vorklassenbesuch den Spracherwerb nicht unbedingt verbessert. Als „erschreckend“ bezeichnete Pochert, daß auch Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache, die in die Kita gegangen sind, nur geringe Deutschkenntnisse hätten. Nur 10 Prozent aller untersuchten Kinder haben gar keine Kita oder Vorschule besucht. „Das bedeutet, daß es einen dringenden Bedarf gibt, daß die Erzieherinnen Deutsch als Zweitsprache fördern“, ist Pocherts Forderung. Hier gebe es immensen Fortbildungsbedarf.
Auch der Weddinger Schulrat Wolfgang Köpnick zeigte sich gestern über die Ergebnisse der Sprachstandsmessung besorgt: „Jetzt müßten eigentlich die Gelder für den Förderunterricht erhöht werden“, sagte er. Doch er gehe nicht davon aus, daß es mehr Geld von der Senatsschulverwaltung gebe. Deshalb werde er einen Teil der Fördermittel bereits in den Vorklassen einsetzen. Köpnick kündigte an, daß der Bezirk jetzt vor jedem neuen Schuljahr eine Sprachstandsmessung der künftigen Erstkläßler, deren Testverfahren derzeit überarbeitet wird, durchführen werde: „Dann wissen wir künftig sehr klar, welches Kind welche Defizite hat, und können es gezielter fördern.“ Doch nicht nur in Wedding ist Sorge angesagt. Die Ergebnisse könne man, so Pocherts, auch auf die anderen Innenstadtbezirke im Westteil Berlins übertragen. Julia Naumann
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