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Nachruf

Leben und Ableben des Polsterers  ■ Von Gabriele Goettle

Armenspeisung Südsternkirche, an einem Donnerstag morgen Anfang Dezember. Die Armen treten frierend den Schnee von den Schuhen und eilen ins beheizte Kirchenschiff. Nur einige abgehärtete Trinker und Raucher warten das Ende der Predigt heute draußen ab. Bis zum Beginn des Frühstücks hauchen sie sich in ihre Hände und lassen eine Flasche Fusel kreisen. Der Antiquar nähert sich, vorsichtig seine Schritte über die glatten Stellen lenkend. Er balanciert mit der Hamstertasche und erklimmt unerschütterlich die Stufen der Kirchentreppe. Kaum oben angekommen, ruft er mir zu: „Weißt du schon die neueste Neuigkeit? Magnus Enzensberger bekommt den Heinrich-Heine-Preis, 25.000 Mark.“ Einer der Trinker fragt: „Wer kriegt 25 Riesen?“ „Keiner, den du kennst“, sagt der Antiquar und geht mit mir ein wenig abseits. „Noch 'ne Neuigkeit habe ich, der Polsterer soll gestorben sein! Sein Kampfhund wurde eingeschläfert. Das ist übrigens genau um die Zeit herum passiert, als du in Frankreich warst. Man hat ihn tot aufgefunden, angeblich waren die Drogen schuld, aber wer weiß das schon. Schade. Zum Sterben war der noch zu jung und zum Leben zu alt.“ Der Antiquar kichert hilflos und geht in die Kirche, Plätze belegen.

Später erzählt Frédéric, der französische Kirchenmaler, folgendes: Daß der Polsterer tot ist, hat keiner gemerkt. Ich war öfters mit ihm zusammen, vorher... Deshalb hab ich ein bizzele rumgefragt. Wir waren ja beim selben Amt zuständig. Also gestorben ist er am 7. Oktober, an einer Überdosis... An einer Überdosis vom sozialen Leben... Nee, mal im Ernst, an Drogen. Morgens hat er sich Geld geholt bei seinem Pfleger, abends um neun war er schon tot. Die Wohnungstür war auf, und der Hund ist im Haus herumgelaufen und hat gebellt. Dadurch ist es erst aufgefallen. Die Polizei hat die Leiche mitgenommen und auch den Hund. Kampfhunde werden immer umgebracht, wenn einer stirbt, das ist deshalb, weil sie keinem anderen Herrn gehorchen, wahrscheinlich.

Der Polsterer, der hat sein Leben lang den kürzeren gezogen. Als Kind ist er ins Heim gekommen, im Krieg, ohne Schule, ohne alles. Damals haben sie die Kinder einfach aufwachsen lassen wie die Pflanzen. Deswegen kann er nicht schreiben und nicht lesen, keine Uhr und nichts. Später hat er es nicht mehr gelernt, dafür war er viel zu ängstlich. Seine ganze Kraft hat er ausgegeben dafür, daß es niemand merkt. Und das, was er erzählt hat von der Polsterlehre, das war ganz anders, er ist damals vom Heim in eine Werkstatt gesteckt worden – in so einem Heim gibt es ja viele Matratzen und so was – dort hat er arbeiten müssen. Er war auch immer auf den Feldern, vom Heim aus, arbeiten für die Bauern. Sie haben ihn immer ausgenutzt, als billige Arbeitskraft. Eines Tages ist er dann ausgerissen. Er hat sein ganzes Leben lang für andere den Handlanger gemacht, schwarz gearbeitet für ein paar Mark. Er hat mir viel erzählt aus seinem Leben, weil, welche die im Heim waren, die verstehen sich, die spüren das, noch bevor der eine es dem anderen zugegeben hat. Zwischen uns war das Gespräch leichter für ihn, weil, er braucht nicht so viele Lügen und Erfindungen zu erzählen. Bei anderen muß er dauernd neue Geschichten ausdenken, um am Ende nicht ganz so blöd dazustehen.

Versucht hat er es nur am Anfang ein bizzele, aber ich habe ihn gleich durchschaut. Er hat immer vom Bordell erzählt, aber das war alles nur seine Phantasie. Der war nie im Bordell, da hätte er sich gar nicht hingetraut. Und dann hat er in der Essensstelle am Badener Ring lauter Bücher mitgenommen, wenn's welche gab. Und er hatte immer einen Kugelschreiber in der Tasche! Einmal hat er mir sogar einen geschenkt. Er hat gerne so getan, als ob er lesen und schreiben kann, hat von seiner Lesebrille erzählt, die er vom Amt bekommen soll. In Steglitz hat er ja mal einen Zettel ausgefüllt. Das waren lauter unleserliche Krakel. Ich hab's ihm auf den Kopf zu gesagt, da hat er es dann zugegeben. Er ist sehr anspruchslos gewesen. Was er gekriegt hat, das hat er genommen. Er hatte nicht viel. Seine Wohnung, das war eine Altbauwohnung im Wedding, 4. Stock, ein Zimmer, Küche, Bad, Zentralheizung. Sie war ja fast leer. Da stand sein Naturholzbett drin, das er bekommen hatte durch seinen Pfleger, ein Fernseher von der Diakonie, eine Liege, Schrank und 'ne kleine Musikanlage. Das war alles. Der Kühlschrank in der Küche war immer leer.

Angezogen hat er, was man ihm in der Kleiderkammer gegeben hat. Bis auf die Cowboystiefel für 300 Mark, die hatte er im Geschäft geklaut. Er war – wie heißt es gleich – Kleptomane war er, klaute wie ein Rabe. Alles, was glänzt, alles aus Edelstahl. Er hatte Gefäße aus Edelstahl, Teller, Tassen. Sogar ein Kruzifix aus Edelstahl hatte er vom Friedhof gestohlen. Wenn etwas schön war, dann wollte er es haben. So kleine Sachen, die machten ihn glücklich. Weißt du, wenn einer als Kind lernt, seine eigene Scheiße zu fressen, dann wird er entweder ein ganz bösartiger oder ein ganz schwacher Mensch. Mit dem Polsterer war das ganz einfach gewesen, er war innerlich schwer verletzt worden und blieb sein ganzes Leben lang ein armer Doddele. Davon hat er sich nicht wieder erholen können.

Also horch mal, wenn du was schreibst über den Polsterer, dann mußt du nur das Schönste über ihn schreiben, weil, er hat ein armes, beschissenes Leben gehabt. Krank war er auch noch. Hast du nicht gesehen, wie der Schmerzen gehabt hat, von seinem Prostatakrebs da unten, wie der sich gequält hat? Das ganze Arschloch war schon zerfressen. Das Haschzeug, das hat er am Schluß nur noch genommen gegen die Schmerzen. Ich sag dir was, ich habe mich gefreut, daß er gestorben ist. Das war kein Mann, den man ins Krankenhaus legen kann zum Operieren und zum Sterben. Der wäre, wenn er nicht gestorben wäre, ganz elendiglich verreckt. Das ist vollkommen klar.

Schreib einfach, seine Seele war gut. Jean s'en alla comme il était venu. Er ist durch die Scheiße gewatet und war trotzdem nicht schmutzig. Wenn du was schreibst über ihn, dann soll es so sein, daß man darüber nachdenkt – denn dafür haben wir schließlich unsere Hirnschale bekommen, damit wir das Stroh nicht in der Hand tragen müssen!

P. ist Mitte 50, kräftig, trägt einen verzierten Silberring im Ohr und hat jene Tätowierungen, an denen sich die „Ehemaligen“ erkennen. Seine drei Punkte, in Dreiecksanordnung auf der Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger, signalisieren Erziehungsheim und Gefängnis. Er war als Kind und Jugendlicher mit dem Polsterer im selben Heim. Durch einen glücklichen Zufall stieß ich auf ihn und nach einigem Zögern war er bereit, mir vom Polsterer zu berichten. Er lud mich sogar in seine Kreuzberger Wohnung ein und erzählt, zur Musik von Pink Floyd, einiges aus des Polsterers und seinem Leben:

Also, daß der an einer Überdosis... niemals! Er hat keine Drogen genommen, in dem Sinn. War Gelegenheitskiffer, hat nie was anderes genommen. Da stimmt was nicht an der Sache. Und daß sie den Hund gleich einschläfern, kann ich überhaupt nicht verstehen. Der war ganz friedlich, den hat er von mir. Die Cindy war sein ein und alles. Mir geht das nicht in den Kopf, das Ganze. Wir haben uns normal immer ein bis zweimal die Woche getroffen. Jetzt hatte ich mal viel zu tun ein paar Wochen. So Ende September habe ich ihn noch gesehen, blieb bei ihm in der Wohnung die ganze Nacht. Er war nicht so besonders gut drauf. Aber das hatte er öfter, seinen Moralischen. Er hat auch so komisch gezuckt – er war ja Epileptiker – ich dachte damals, daß er vielleicht gerade einen Anfall hatte, vorher. Also ehrlich gesagt, ich bin ganz fertig.

Der Bönninghoff war ja fünf Jahre älter als ich, trotzdem waren wir viel zusammen, im Heim damals. Er war ziemlich zurückgeblieben, ist zurückgehangen in allem, deshalb war er immer bei den Kleineren. Er ging zur Sonderschule eine Weile, war ängstlich, verstört, schüchtern. Durch seine Weichheit ist er unterdrückt worden. Den haben sie immer gehänselt und gequält. Er konnte sich nicht wehren, konnte nicht aggressiv sein. Immer dann, wenn es Probleme gab, machte er ins Bett. Dann gab's erst recht Probleme, und so macht er eigentlich meistens ins Bett. Er war ein Einzelgänger. Kein Mensch wollte ihn zum Freund. Ich mochte ihn. Er war irgendwie tapfer, hat alles ertragen, er hat nie gepetzt. Er war ziemlich brav, aber kein Schleimer. Deshalb haben ihn auch die Strafen voll erwischt.

Das waren ja noch andere Erziehungsmethoden, damals, nach dem Kriege. Da wurde uns Heimkindern noch alles eingeprügelt, und es gab Isolation, eine Woche in der Kammer eingeschlossen, ohne alles. Gegen so was entwickelt man normalerweise eine gesunde Aufsässigkeit. Der Bönninghoff nicht, der war traurig und hat geweint. Er ist nie besucht worden – ich auch nicht –, er bekam keine Päckchen, keine Briefe, nichts. Er war vollkommen alleine auf der Welt – wie so mancher –, aber er hat das viel schlechter als ich oder andere verwinden können. Wenn du weich bist und weich bleibst, dann gibst du auch viel schneller auf im Leben. Er ist nie losgekommen von dieser Geschichte. Bis zu seinem Tod hat er, einmal in der Woche mindestens, geweint über all das. Er wurde richtiggehend todtraurig und hat die ganze Nacht den vier Wänden sein Leid geklagt.

Weil er nie vom Heim abgehauen ist, hat er das Leben draußen erst spät kennengelernt. Ich bin auf Trebe gegangen, wurde von der Polizei zurückgebracht, und dann war Glatzenschneiden angesagt. Angeblich sollte das nur gegen Läuse sein, es war aber klar eine Bestrafung. So was machte ihm Angst. Vor dem Leben auf Trebe, da hatte er auch Angst, also ist er geblieben. Ich bin wieder abgehauen, habe eine Straftat begangen und kam in eine geschlossenes Heim für Schwererziehbare. So haben sich unsere Wege für eine Weile getrennt. Er blieb in Solingen im Heim, bis 21. Damals war man erst mit 21 volljährig, und solange wurde man im Heim festgehalten. Als ich ihn wiedersah in Solingen, da war er schon ein paar Jahre draußen, hat bei Bauern gearbeitet, in Gießereien und in Kneipen, er hat längere Zeit auch in Ruinen geschlafen und in Bauwagen. Ich habe ihn dann aus den Augen verloren.

Irgendwann ist er nach Berlin gegangen. Wie er das geschafft hat, das weiß ich nicht, wahrscheinlich getrampt, er konnte sich ja noch nicht mal eine Fahrkarte kaufen, so lebensuntüchtig war er. Damals hast du als Heimkind kaum Kontakt mit der Außenwelt gehabt, die Schule war im Heim, die meisten Arbeitsstätten auch. Alles, was für normale Kinder und Jugendliche Routine war, wie Bahn- und Busfahren von A nach B, Einkaufen, Geldausgeben, fremde Menschen kennenlernen, Entscheidungen treffen und so weiter, das war für uns ein Riesenproblem. Wir mußten uns das alles als Erwachsene mühsam selber beibringen, und zwar so, daß es niemand merkt, sonst wirst du ja für einen Vollidioten gehalten. Er hatte es besonders schwer, weil er ja vollkommener Analphabet war. Er mußte eine gigantische Intelligenz aufbringen, erst einmal dafür, es zu vertuschen, und dann im täglichen Leben. Er mußte sich alles merken und einprägen. Für den waren das alles nur Bilder, die Buchstaben und Zahlen. Wie er das immer gemacht hat, das weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich ihn dann aus den Augen verloren, für fast zwanzig Jahre.

1982, oder 83, ich weiß es jetzt nicht genau, da habe ich ihn wieder getroffen. Hier in Berlin, durch einen Kumpel, ganz zufällig. Ich habe ihn sofort wiedererkannt. Seitdem waren wir viel zusammen, ich habe sogar eine Weile mit ihm zusammen gewohnt. Dann war ich auch mal für längere Zeit auf Montage im Ausland – ich bin ja Handwerker, ich mache fast alles, von A bis Z – und da habe ich ihm sogar manchmal Geld geschickt, damit er sich mal was leisten kann. Er kam ja damals dann unter Pflegschaft, bekam einen Amtsvormund. Und ich glaube, das war ein großer Hammer für ihn, das mit der Pflegschaft. Aber er konnte einfach seine Dinge nicht auf die Reihe kriegen, hat nie Rechnungen bezahlt, nichts. Das war für ihn natürlich eine Niederlage.

Aber in Wirklichkeit ist seine kleine Welt schon viel früher zusammengebrochen. Der Bönninghoff war ein Hippie, ein Flowerpowertyp gewesen. Das war seine Zeit, die sechziger und siebziger Jahre. Damals war das Leben leicht, ein paar alte Jeans, Sandalen, ein Päckchen Schwarzer Krauser, etwas Hasch, das war's. Du konntest auf der Straße rumsitzen mit langen Haaren und frei sein. Das war normal, du wurdest da nicht als Penner angesehen oder als Obdachloser, höchstens als Freak. Die Leute hatten Zeit, endlos Zeit. Da gab dir jeder mal 'ne Zigarette, 'ne Essensmarke für die Mensa oder einen Platz zum Pennen irgendwo. Die Gesellschaft war in Unordnung, Studentenbewegung, Lehrlingsbewegung, alles auf der Straße. Die Leute in den Erziehungsheimen haben Bambule gemacht und sind massenhaft ausgebrochen, haben sich politisiert, eigene Jugendhäuser gegründet. Die gibt's bis heute, das Rauchhaus, das Weißbeckerhaus.

Für Bönninghoff und auch für mich kam das zu spät. Aber er hat auf seine Art teilgenommen an der Zeit und ich auf meine. Daran ist er richtiggehend zerbrochen, daß alles das brutal den Bach runtergegangen ist. Er war unheimlich sauer auf die Studentenbewegung, die sich zurückgezogen hat, besonders sauer war er auf die RAF. Er hat immer gesagt, die waren schuld daran, daß das ganze freie Leben aufgehört hat, daß alle sich aus Angst in ihre Häuser zurückverkrochen haben und bald nur noch Kohle und Karriere machen sollten. Sonst war er politisch gar nicht interessiert, im Gegensatz zu mir. Ich war ja mehr oder weniger... Ich habe ihm davon nie was erzählt... Aber die RAF habe ich auch nicht geliebt, die waren mir zu elitär. Ich hatte Interesse für die Stadtindianer, für die Haschrebellen, für die Bewegung 2. Juni. Ich habe meine zweieinhalb Jahre abgesessen, für den Ausbau des Kellers in der Schenkendorfstraße. Das war der Keller unter der Ladenwohnung in Kreuzberg, in dem der Politiker Lorenz versteckt wurde, nach seiner Entführung. Du erinnerst dich? Ja, das sogenannte Volksgefängnis. Ich wurde verurteilt, obwohl man mir eigentlich nichts nachweisen konnte.

Später war ich in der Besetzerszene, wohnte im besetzten Haus, hab bei vielen Gruppen mitgemacht. Mir persönlich hat das viel gebracht, die sechziger und siebziger Jahre, die antiautoritäre Bewegung und alles. Für solche Leute wie mich und den Heinz, die Prügelstrafen und sexuelle Unterdrückung und Essensentzug noch am eigenen Leib erfahren haben, da war das sagenhaft. Eine echte Befreiung! Der Normalmensch, der Student, der kannte das ja gar nicht, eine Kindheit im Knast sozusagen, schlimmste autoritäre Gewalt, davon wußten die nur was aus Büchern. Deshalb vielleicht waren sie auch so gewaltbegeistert, die RAF. Die wußten gar nicht, was das ist, das haben sie erst später erfahren. Wir waren eher gegen Gewalt. Der Bönninghoff ja sowieso, der ging allem aus dem Weg. Der konnte keiner Fliege was zuleide tun. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Er wollte nur auf seiner Bank im Park sitzen, irgendwo in der Stadt, rumhängen und zuschauen, was so alles vorbeikommt im Laufe des Tages.

Na egal, das ist Schnee von gestern. Das Politische ist kaputt, und der Bönninghoff ist tot. So liegen die Tatsachen. Die ganze Gesellschaft heute, besonders nach der Wende, wo jeder nur noch auf sein Auskommen achtet und den anderen wegstößt vom Futtertrog, die war zu hart für den Bönninghoff – oder er war zu weich, was weiß ich! Er hat es jedenfalls nicht geschafft, obwohl er immer versucht hat, den Harten zu machen. Aber es hat ihm einfach an Widerstandskraft gefehlt. Man muß sich ja heute auf jeder Parkbank behaupten. Deswegen war er auch ganz froh, daß die Leute Respekt hatten vor der Cindy. Er wußte zwar, daß die vollkommen harmlos ist, aber von außen sah sie aus wie ein richtiger Kampfhund. Das hat ihm etwas Sicherheit gegeben, mit ihr traute er sich auch in der Nacht noch mal runter auf die Straße, so ängstlich und unsicher war der.

Locker und unbeschwert wurde er nur unter Hasch. Da konnte er erzählen, da konnte er lachen, hatte gute Ideen und hat sich allerhand vorgenommen. Ganz schlimm ging's ihm nach Bier, da wurde er trübsinnig. Es ist ihm nicht bekommen, da fing er immer sofort an zu weinen. Früher habe ich ihm immer gesagt: Bönninghoff, du bist wirklich kein häßlicher Mann, aber laß dir die Zähne machen, lern in einem Abendkurs lesen und schreiben, und du wirst ein anderer Mensch. Die Frauen werden dir nachlaufen, alles! Er sah gut aus, muß man sagen, aber mit einer Frau hat es nie so geklappt. Wegen seiner unheimlichen Gier vielleicht... nicht nur nach körperlicher, auch nach seelischer Liebe, und dann war er manchmal zwölf Stunden lang hintereinander sentimental, hat gejammert und geweint. Von den schönen alten Zeiten gefaselt, davon, wie früher, als er noch jung und gesund war, alles zum besten stand... Aber das war ja auch nicht ganz so, wie er das gerne wollte.

Die Krankheit da, sein Prostatakrebs, das hat ihm wirklich Angst gemacht. Jedesmal, wenn er zur Ärztin mußte, hat er sich wahnsinnig aufgeregt, schon Tage vorher. Und dann hatte er in der letzten Zeit so ein bißchen abgebaut, er bekam schlechtere Augen, sein Gedächtnis verschlechterte sich ziemlich, er konnte sich keine Telefonnummer mehr merken, keine Namen, keine Adressen. Es gab kaum noch Menschen, von denen er wußte, daß sie da und da wohnen. Er war fast nur noch zu Hause und dann in den Suppenküchen, auch beim „Warmen Otto“ im Wedding. Da ging er überall hin, sonst hätte er wohl nie ein Frühstück oder ein Mittagessen gesehen. Den Hund allerdings, das muß ich sagen, den hat er erstklassig versorgt, da war immer im Schrank das Hundefutter in Reserve. Sein Kühlschrank war ständig leer, für sich selbst konnte er nicht sorgen. Aber daß er so eingehen wird, an einer Überdosis, das hätte ich nicht geglaubt. Das kann eigentlich gar nicht wahr sein. Na, ich werd' mal rumhorchen im Wedding, da kommen ja nur bestimmte Leute in Betracht, die da verkaufen. Das kriege ich schon raus, wer den Bönninghoff so reingelegt hat. Viel konnte ich dir ja nun nicht erzählen. Dem Bönninghoff sein Leben, das ist meistens traurig und trist gewesen, es gibt massenhaft Leute, die sind wahrscheinlich interessanter zu beschreiben.

Herr K. vom Gesundheitsamt Wedding, Pfleger von H. Bönninghoff:

...Moment, da muß ich mir die Akte holen... Also, bei uns war er zuletzt am 6. Oktober... Nein, stimmt nicht, am 22. September war er hier. Am 6.10. hätte er kommen müssen, kam aber nicht. Er hat zweimal 75 Mark auf einmal bekommen, für zwei Wochen. Früher haben wir das wöchentlich gemacht, aber seit einer Weile ...er kam gut mit dem Geld zurecht. Als er dann am 6. nicht kam, habe ich mich noch gewundert, er war immer pünktlich da. Am nächsten Tag, am 7., bekam ich dann die Todesnachricht. Also es war irgendwie unklar... Als Todestag steht der 7.10. hier, aber auf der Sterbeurkunde steht: zwischen dem 27. September und dem 7. Oktober zu unbekannter Zeit. Aber daß er so lange gelegen haben soll... Gestorben ist er jedenfalls letztlich an einem ganz normalen Herzinfarkt. Es ist ja eine Obduktion angeordnet gewesen, weil die Wohnung offenstand und ein Verbrechen nicht auszuschließen war. Der Pathologe von der Gerichtsmedizin hat dann aber festgestellt, daß kein Fremdeinwirken vorlag... Nein, auch keine Drogen. Ein frischer Herzinfarkt war die Todesursache. Irgendein Nachbar muß die Polizei verständigt haben, weil längere Zeit die Wohnungstür aufstand und Licht brannte. So hat man ihn dann gefunden. Was allerdings aus dem Hund geworden ist, aus seiner Cindy, das konnte mir die Polizei nicht sagen. Die Kripo hat versichert, daß kein Hund in Gewahrsam genommen wurde, daß man keinen Hund in der Wohnung vorgefunden hat...

Und die Beerdigung... mal gucken, hier: Urnenbestattung. Am Freitag, den 20.11.98, um 12 Uhr, auf dem städtischen Friedhof, Berlin-Wedding, Turiner Straße... der ist gleich hier in der Nähe, zwischen der Müllerstraße auf der Höhe des Rathauses, da gleich schräg gegenüber, zwischen den Häusern, da ist der Friedhof. Beisetzungsort: anonymes Urnenfeld. Grade sehe ich, er hat nicht mal mehr seinen 60. Geburtstag erlebt, 4.11.1938. Ja... Was war noch? Seine Wohnung. In der hatte er so 12 Jahre lang gewohnt. Die ist versiegelt worden von der Polizei, und wahrscheinlich hat man sie bisher nicht geräumt. Es wurde vom Gericht ein Nachlaßpfleger eingesetzt, der kümmert sich um die paar Habseligkeiten, die der Herr Bönninghoff ja nur hatte. Ich denke, da wird an Wert nichts übrigbleiben, unterm Strich.

Jetzt muß ich direkt mal nachgucken, wie lange er bei uns war... Moment... Ich betreue den Herrn Bönninghoff ja erst seit zweieinhalb Jahren... Sekunde, es gibt hier mehrere Bände. So. Also nach Berlin kam er 1974 oder 75, aus Solingen. Zu uns kam er erst... Moment, hier in Band 4 steht es. Die Pflegschaft bestand seit 1990. Der Grund war, das können Sie sich ja denken, daß er nicht alleine zurechtkam, mit seinen Finanz- und Wohnungsangelegenheiten etwa... da spielte vieles mit rein, auch seine vielen Ladendiebstähle und das Schwarzfahren. Er konnte weder seine Pflichten erfüllen noch seine Ansprüche wahrnehmen, den Ämtern und Behörden gegenüber. Er war ja Analphabet und hat seine Rechnungen und Aufforderungen einfach weggeschmissen. So eine Pflegschaft, das ist ja heutzutage nicht mehr so hart wie früher, wo es noch die vollständige Entmündigung gab. Der Gesetzgeber hat seit 1.1.92 daraus die Betreuung gemacht, das stärkt die Grundrechte der Betroffenen etwas. Für uns ist es eine Erschwernis, aber für die Leute ist es angenehmer, denn die Pflegschaft bietet natürlich auch einen Schutz bei Straftaten. Also bei Bagatellfällen, wie Ladendiebstahl und Beförderungserschleichung etwa. Das wird dann von uns nach Möglichkeit irgendwie gradegebogen. Das

kam ja bei Herrn Bönninghoff öfter mal was Derartiges vor. Aber ich muß sagen, er war liebenswert. Er war ein ganz kleiner, liebenswerter Ganove. Er hat immer wieder versucht, mich übers Ohr zu hauen und er hat's oft und oft geschafft mit seinem Charme. Ich mochte ihn gerne. Ich seh' ihn immer noch vor mir, wie er hier reinkam, mit seinem Hund. Die Cindy war sehr beliebt, sie stellte sich mit den Vorderpfoten auf den Schreibtisch und wurde vom Kollegen gefüttert mit Hundekuchen. Ach nee, er war schon ein Unikum, er war richtig nett, der Bönninghoff, trotz der Geschichten, die er manchmal machte. Eine erzähle ich ihnen mal, die Geschichte mit Fielmann:

Eines Tages meinte er, er sieht nicht mehr so richtig, braucht eine Brille, eine Lesebrille, ja, ja. Kein Problem, sagte ich, gehn Sie zum Optiker, lassen Sie die Sehschärfe testen, und schaun Sie sich um, welche Brille ihnen gefällt, dann sagen Sie mir Bescheid. Er ging zu Fielmann, sah dort eine Tasche stehen von einer Kundin, die gerade Brillen probierte, und hat sie sofort geklaut. Das erfuhr ich später. Hier kam er an mit einer ganz anderen Geschichte, er brachte die Tasche, sagte, er habe sie in Rehberge gefunden, sie sei so gut wie leer gewesen, und er wolle sie nun abgeben. Über die Papiere, die noch drin waren, fand man schnell den Weg zurück zur Besitzerin und zu Fielmann. Dort hatte man ihn auch gesehen, erkannte ihn wieder. Er aber hat rundweg alles abgestritten, blieb dabei, die Tasche in Rehberge gefunden zu haben. Andere schmeißen die Tasche weg, er nicht. Er bekam dann ein Bußgeld wegen Diebstahls und hatte am Ende nur Nachteile. Von der Brille war nie wieder die Rede. Das war Bönninghoff. Ein Kleptomane, ganz harmlos und freundlich.

Polizeirevier in der Weddinger Seestraße, Wache:

Nee, das tut mir leid, vom 7.10. hab' ich nichts mehr hier und außerdem dürfte ich Ihnen auch gar keine Auskunft darüber geben, selbst wenn ich was hätte. Übrigens, wenn da eine Obduktion angeregt worden war, dann war das eine Sache der Kriminalpolizei, dann haben wir den Fall abgegeben, dann müssen sie sich dort mal erkundigen – aber ob die Ihnen Auskunft geben, das wage ich zu bezweifeln.

Auch die Kriminalpolizei hat keine Unterlagen mehr, sie sind an die Justizbehörde weitergeleitet worden und liegen dort bei einem Staatsanwalt. Der Justizsprecher teilt mir, nach Rückfrage bei diesem Staatsanwalt, folgendes mit:

Herr Bönninghoff wurde am 7.10.98 tot am Boden liegend in seiner Wohnung aufgefunden. Mieter des Hauses hatten die Polizei verständigt, wegen der offenstehenden Wohnungstür. Der Tote war vollkommen bekleidet und wurde, wegen der unklaren Todesursache, ins Leichenschauhaus in der Invalidenstraße zur Obduktion gebracht. Diese Obduktion ergab als Todesursache Herzinfarkt.

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