piwik no script img

Treulich geführt

Fakten, Daten, Hintergründe in 17 Fremdsprachen: Sechs Wochen dauert die Ausbildung zur Hamburger GästeführerIn  ■ Von Judith Weber

Über das Hamburger Rathaus weiß Françoise Gallert ähnlich gut Bescheid wie über ihre eigene Wohnung. Wie viele Zimmer das Gebäude hat, wann die Fassade zuletzt renoviert wurde, und daß das Haus „älter aussieht, als es tatsächlich ist“, nämlich ein Jahrhundert, erzählt die Französin so engagiert, als sei sie selbst gerade eingezogen in das Parlamentsgebäude nahe der Binnenalster. Und als hätte sie nicht die vergangenen Wochen damit verbracht, „eine Unmenge Namen“, Daten und Fakten zu lernen, die in ihrer Ballung eher entmutigend als spannend wirkten.

Doch nun sitzen die Zahlen. Nach sechs Wochen Ausbildung zur Gästeführerin sind Informationen und Anekdoten fest in Gallerts Kopf verankert – und jederzeit abrufbar für die Kegelvereine aus Bottrop-Kirchenhellen, die ihre jährlichen Ausflüge nach Hamburg machen. Für die französischen Schulklassen und die StudentInnen und für die Geschäftsleute, die für einige Tage nach Hamburg kommen. Sie alle können Françoise Gallert buchen, für Stadtspaziergänge, kurze Vorträge oder Rundfahrten mit dem Bus.

Rund 85 freiberufliche GästeführerInnen hat die Tourismuszentrale Hamburg (TZH) in ihrer Kartei. Sie bieten Führungen auf deutsch sowie in 17 anderen Sprachen an, darunter Polnisch, Russisch oder französisch. Diese Vielfalt ist europaweit einmalig.

Besonders die osteuropäischen Sprachen werden viel verlangt in letzter Zeit. Deshalb hat sich die TZH im Dezember entschieden, 15 neue FührerInnen auszubilden – zum ersten Mal seit sieben Jahren. „Lehrgänge gibt es nur, wenn auch Bedarf vorhanden ist“, erklärt Renate Bense, Sprecherin der Hamburger GästeführerInnen.

Sie selbst hat den Kursus 1991 absolviert, „da gab es wegen der Öffnung der Grenze eine Riesennachfrage“. Sechs Wochen lang hörte sie sich Referate über Geschichte und Verkehrspolitik der Stadt an, polierte ihre Kenntnisse in Sachen Medien auf und vertiefte sich in die Hamburger Wirtschaftsstruktur. 1500 Mark mußte sie dafür auf den Tisch legen.

Klingt teuer, hat sich aber gelohnt, versichert die 53jährige. „Das Geld hat man in einer Saison wieder raus.“ Im Sommer, wenn das Geschäft gut läuft, könne man jeden Tag unterwegs sein. Für eine zweistündige Bustour bekommen die FührerInnen in der Regel 125 Mark; „manchmal wird man auch für den ganzen Tag gebucht und verdient bis zu 500 Mark“.

Françoise Gallert hat diese Erfahrung noch nicht gemacht. Der nasse Hamburger Winter „ist eine tote Zeit“, sagt sie. „Es ist einfach zu kalt.“ Die Hauptsaison gehe von April bis Oktober. Auch dann wird die Übersetzerin nicht von den Stadttouren leben können. Alle GästeführerInnen haben noch einen anderen Beruf oder sind RentnerInnen. Mehr Frauen als Männer leiten Gruppen durch die Stadt, die meisten sind über vierzig.

Renate Bense hatte jahrelang ihren Haushalt geführt und die beiden Kinder versorgt, als eine Freundin ihr von der Ausbildung erzählte. Die Bedingungen klangen verlockend: flexible Zeiteinteilung, gute Ortskenntnis, Englisch und wenn möglich eine weitere Sprache. Bense griff zu. Bereut hat sie ihre Entscheidung noch nie. Sicher, räumt sie ein, „man muß ab und zu aufpassen, daß man nicht in Routine abgleitet“. Denn bestimmte Ausflugsziele werden immer wieder angefahren: die Speicherstadt etwa („ein Renner“) oder der Michel, der „ein wahrer Wallfahrtsort“ ist. Aber langweilig sei der Job deshalb noch lange nicht, erklärt Bense. „Man stößt immer wieder auf neue Aspekte eines Themas, und dann geht man eben in die Bibliothek und schlägt nach.“ Allein die Renovierung des Hamburger Rathauses 1998 forderte von den FührerInnen gründliche Weiterbildung; „da mußten wir plötzlich die Fassade erklären“.

Doch trotz abendlicher Lesestunden und jahrelanger Erfahrung können die FührerInnen nicht jede Frage beantworten. „In solchen Fällen antworte ich: Ich schaue in einem Buch nach und erzähle es Ihnen später“, erklärt Bense gelassen. „Man kann schließlich nicht alles wissen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen