: Totale Sendezeitverklappung
■ Für "Total verrückt...!" hat sich RTL allerlei US-Fernsehformate zusammengekauft, die dem Zuschauer "Sensation" entgegenbrüllen - bis man den Ton wegdreht (20.15 Uhr, RTL)
Auch der Fernsehtag hat 24 Stunden. Doch seit das Testbild vor gar nicht allzu langer Zeit erbarmungslos und konsequent ausgerottet worden ist, müssen die täglichen zwei Dutzend Stunden auch bitte schön mit Programm gefüllt werden. Und weil die vielen, vielen Fernsehsender sich partout nicht abwechseln wollen mit dem Senden, der einzelne Fernsehzuschauer aber noch immer am liebsten vor einem einzigen Fernsehapparat sitzt, sind Programmplaner nicht zu beneiden. Zum Glück aber ist Deutschland ja nicht die einzige Fernsehnation der Welt.
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Andererseits stößt selbst jene hochzivilisierte Nachfrage-Gesellschaft, die noch immer gern als „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ bezeichnet wird (und zumindest internationalen TV-Importeuren tatsächlich recht unbegrenzte Möglichkeiten bietet), irgendwann an ihre Limits. Beispielsweise an sprachliche: Mehr als Superlativ geht auch in den USA nicht. Wenn dort die Fernsehshows plötzlich „The world's wildest police videos“, „The world's worst drivers“ oder „The world's deadliest seacreatures“ heißen, dann klingt das nicht nur genauso verlogen wie Astrid Lindgrens „Karlson auf dem Dach“, der Welt größtem Egalwas, sondern beschreibt zugleich auch den gegenwärtigen Zustand US-amerikanischer Fernsehlandschaften und Sehgewohnheiten.
Nun hat der deutsche Programmanbieter RTL die amerikanischen Superlativ-Formate zusammengekauft und umgetauft. Seit nunmehr drei Wochen schon heißt es deshalb hierzulande am Freitag „Total verrückt ...!“ Und wer sich bislang schon mal versehentlich oder vorsätzlich in die bisherigen Folgen verirrte, mag gestaunt haben – nicht ob der „wildesten Polizeijagden“, „dreistesten Mitarbeiter“ und „gefährlichsten Stunts der Welt“, mit der RTL die Verrücktheiten untertitelt, sondern ob der Dreistigkeit, mit der einzelne Beiträge Fernsehprogramm sein wollen.
In höchstgradiger Konzept- und Lieblosigkeit stückeln sich diverseste Sensationssequenzchen (bzw. solche, die Amateurfilmer, Überwachungskameraüberwacher, Regional-TV-Berichterstatter und Augenzeugen dafür halten) ohne erkennbare Dramaturgie sowie Sinn und Verstand aneinander. Der Kommentar brabbelt und plappert unentwegt sein (lieblos übersetztes) „Bleiben Sie dran!!“, damit der TV-Voyeur bloß nicht auf die Idee kommt, daß das, was er da zu sehen bekommt, unspektakulärer und unglaubwürdiger gar nicht sein könnte. In der „Mitarbeiter“-Folge beispielsweise sagte der Sprecher: „... ein Saisonarbeiter auf einer Ranch läßt einfach einen Sattel mitgehen ...“; zu sehen bekam der Zuschauer aber bloß einen Mann, der in einen Schuppen geht und mit einem Sattel wieder herauskommt.
Nur scheinbar regiert hier der visuelle „Oh!“-Effekt des Bildmediums Fernsehen: Ohne Ton enttarnt sich die Sensation als Farce.
Die heutige „Seeungeheuer“- Folge funktioniert ähnlich: Mal abgesehen davon, daß man sich unter „Seeungeheuer“ vermutlich alles andere vorstellt als Haie, Wale oder Krokodile, erzählen hier irgendwelche Menschen haarsträubende Geschichten von gräßlichen Haiattacken, während sich eine Stunde lang wirr und schnell zusammengeschnittene Tauchsequenzen mit tausendmal gesehenen Bildern von Haifischgebissen abwechseln.
Wer bislang glaubte, der Superlativ von „suggestiv“ und „hirnlos“ laute „Akte 99“ oder „Life! Die Lust zu leben“, sei besonders auf die nächtliche Wiederholung um 2 Uhr hingewiesen. Erst zwischen 0190-Arien und Müdigkeitsanfällen erfüllt die ultimative Bedingungs- und Anspruchslosigkeit ihren Sendezeitverklappungsauftrag. Und zwar total. Christoph Schultheis
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