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Sondergericht in Frankreich tagt über Politiker

■ In Paris hat das Verfahren gegen ehemals führende PolitikerInnen wegen HIV-verseuchter Blutkonserven begonnen. Unzufriedene Opferverbände organisieren einen Gegenprozeß

Paris (taz) – Seit gestern spricht Frankreich über Aids. Die Eröffnung des Prozesses gegen drei sozialistische Ex-MinisterInnen wegen ihrer möglichen Verantwortung für die HIV-Infizierung von rund 350 Personen beleuchtet das Thema erstmals und massiv unter einem anderen Licht. Plötzlich ist nicht mehr von Schwulen oder anderen Randgruppen die Rede, sondern von öffentlicher Gesundheit, von Geld, von der Kontrolle der Industrie und erstmals auch von der Rechenschaftspflicht von RegierungspolitikerInnen.

JedeR der Angeklagten ergriff zu Prozeßbeginn kurz das Wort, um Mitgefühl gegenüber den Opfern der Aids-Infektion auszusprechen. Ex-Premierminister Laurent Fabius versicherte, seit Mitte der 80er Jahre sei kein Tag vergangen, an dem er nicht an sie gedacht hätte. Die beiden anderen Angeklagten – Ex-Sozialministerin Georgina Dufoix und Ex-Gesundheitsstaatssekretär Edmond Hervé – betonten, wie erleichtert sie seien, daß das zunächst auf drei Wochen terminierte Verfahren, dessen Vorbereitungen seit inzwischen fünf Jahren laufen, endlich beginne.

Alles an diesem Prozeß ist eine Premiere. Der Cour de la Justice de la République wurde eigens zu diesem Zweck geschaffen. Sechs der neun Richter sind Abgeordnete aus Senat und Nationalversammlung. Die Zeugen sind nicht verpflichtet, einen Eid abzulegen. Und Nebenkläger sind nicht zugelassen.

An Vorwürfen gegen diese „Amnestiermaschine für Politiker“, wie Angehörige von Opfern gestern erklärten, mangelt es angesichts derartig vieler Ausnahmeregelungen nicht. Aus diesem Grund planen mehrere Opfervereinigungen auch, einen Gegenprozeß zu organisieren, bei dem alle zu Wort kommen sollen. In dem offiziellen Prozeß dürfe die wenigen überlebenden Opfer, sofern sie überhaupt vernehmungsfähig sind, bloß im Zeugenstand sprechen.

„Prozeßbeginn ohne Zwischenfälle“, meldeten gestern mittag die elektronischen Medien in Frankreich. Wohl auch wegen des extrem kalten Wetters war es nicht zu den befürchteten Demonstrationen vor dem Kongreßzentrum Kléber im 16. Pariser Arrondissement gekommen. Im Inneren des Gebäudes sind größere Proteste von vornherein ausgeschlossen. Für das Publikum sind nur rund 100 Plätze vorgesehen.

Unter anderem muß das Gericht in den kommenden Wochen klären, ob es stimmt, daß die drei Angeklagten die Einführung des Aids-Bluttestes der US-amerikansichen Firma Abbots auf den französischen Markt 1985 um mehrere Wochen verzögert haben, um dem französischen Konkurrenzlabor Pasteur zu gestatten, seinen Rückstand aufzuholen und seinerseits einen Aids-Test zu entwickeln. Dorothea Hahn

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