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Aufbrausende Levitationen

■ Von karriereangewandter Sozialforschung zur krisenabgewandten Kulturforschung

Im Mittelpunkt von Dostojewskis Interesse stand immer wieder der „Luftmensch“ – er gehörte zu jener losgelösten, quasi in dünner Luft sich bewegenden Intelligenzija, die mit der Revolution unterging. Während der Zeit der Sowjetunion trat sie erneut zutage: als eine Art „Untergrund“, die ihren literarischen Ausdruck in Brodsky und Aksjonow hatte, später in der Arbeiteropposition, beispielsweise in Gerschuni. Eine solche innerhalb des Äußeren und außerhalb des Inneren eingeschlossene Disposition war immer auch wesentlich jüdisch. Die Chicagoer Soziologie nennt diesen labilen, jedoch optimalen Erkenntnisstandpunkt eine Marginal Man Position.

Deren Avantgarde bildeten dazumal die jüdischen Osteuropa-Migranten. Noch Woody Allens New-York-Filme zehren davon. Ihr sozusagen realer Untergrund wurde jetzt ebenfalls verfilmt – von Bennett Miller: „The Cruise“. Über das Leben von Timothy Levitch: einem New Yorker Stadtbilderklärer aus Leidenschaft, dessen literarische Touren die Hochhausschluchten taumeln lassen.

Ich sah mir „The Cruise“ zusammen mit dem Dostojewski- Regisseur Wladimir Kaminer an. Er war erst begeistert, weil Levitch den Eindruck machte, ES wirklich schaffen zu können, aber dann verfiel er nach Meinung von Kaminer doch wieder in die üblichen Klagen – „Vielleicht also auch nur ein Angeber?“ Ich war erst erstaunt über diese Sichtweise, aber dann wurde mir klar, daß Wladimir in Berlin versucht, praktisch und philosophisch genauso „leichtsinnig“ zu leben, wie Levitch im ersten Teil des Films vorgibt.

Obwohl sowjetisch-staatenlos und weitaus weniger als prekär beschäftigt, muß er dazu noch – mit seiner Frau Olga zusammen – für zwei Kinder sorgen. Ich kann mir so etwas nur als Beschwernis denken, auch wenn ich weiß, daß Olga aus einer alten russischen Spielerfamilie stammt, die nunmehr in St. Petersburg gambelt. Bisher hatte ich mir die Gravitationsfelder (wie Festgehalt, kleingekacheltes Badezimmer etc.) primär immer mit den unterschiedlichen Reichweiten der je einzelnen erklärt – als eine Art Kräfteparallelogramm.

Allzusehr beeinflußt vielleicht von Pynchons „Gravity's Rainbow“. Diesen stellte ich mir so ähnlich vor wie einen tanzenden Stern zwischen Geburt und Tod – bzw. wie die Flugbahn einer Kurzstreckenrakete, wobei alle systemischen Anstrengungen dahin gehen, sie mindestens „interkontinental“ zu schaffen: Gagarin – mit dem, folgt man Emmanuel Lévinas, endgültig das Privileg der „Verwurzelung und des Exils beseitigt“ wird. Auch hierbei kam den Juden wieder eine Pionierfunktion zu, ich rede von den sowjetischen Systemforschern. In ihrer Kosmonautik überlebte überdies die Psychoanalyse, was man mit Lévinas damit erklären kann, daß diese letztmalige „Verführung des Heldentums“ sich nur „jenseits der Infantilität“ realisieren ließ.

Die Atomphysik daneben war laut Albert Einstein bereits in ihrem Kern „jüdische Wissenschaft“. Paradoxerweise versuchte das Judentum gleichzeitig seine Frömmigkeit zu verwurzeln: mit Israel, wo die Bibel als Grundbuch gelesen wird. Dazwischen hieß es einmal: „Ubi Lenin, ibi Jerusalem“ (Ernst Bloch). Erst recht seit dem „Sputnik-Schock“ besteht Levinas darauf: „Das Judentum ist in bezug auf die Orte immer frei gewesen.“ Einer der letzten Mir-Kosmonauten merkte jetzt – da auch die Weltraumforschung in die Krise geraten ist – an: „Wir haben unser Hauptproblem nicht gelöst. Wir können in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Also bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen.“

Mir geht es hier unten inzwischen just like that: aus Angst vor Blut- und Bodenhaftung – die Juxtaposition zu Heldentum und Heimweh. Anders ausgedrückt mit den Worten von Wladimir, als er einmal seine Differenzen mit deutschen Co- Regisseuren auf den Punkt bringen wollte: „Der russische Dostojewski will aus dem Dreck ans Licht, während der deutsche Dostojewski aus dem angenehmen Leben ins Elend will.“ Beiden geht es dabei um „Wirklichkeit“. Während dessen bemüht sich Kaminer längst um eine gewisse Levitation, die ich nunmehr jedoch so schreiben würde: Levytation. Die Folge: Täglich kommen junge Deutsche in den Jüdischen Kulturverein und wollen Juden werden!

„Schrecklich, wir schicken sie alle wieder nach Hause“, seufzt Irene Runge. Nicht verwehren kann man den Deutschen, daß immer mehr Kinder jüdische Vornamen bekommen. Derweil ihre andauernde Schwerkraft den Doppelpaß schon im Vorfeld aushebelte. Auf der anderen Seite stauen sich hier gleichzeitig die Postsowjetniks (der „Fünften Welle“) derart, daß die Gemeinden bereits ein jüdisches Krisentelefon einrichteten – auf ABM-Basis! Zur seelsorgerischen Betreuung ihrer ersten Luftnummern. Eine, von einem Westberliner 68er angeschoben, ist bereits fest immobilisiert: „Jadass Isroel“. Für echte Lévytationen kann es hier jedoch nur eine Verankerung geben: bei der KSK im Marinezentrum Wilhelmshaven! Helmut Höge

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