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Von Ingrid Stahmer redet niemand mehr

■ Nach dem Menetekel der Hessen-Wahl nimmt die SPD-Spitze die Schulpolitik selbst in die Hand

Geschafft. „Wir sind jetzt alle Bildungsexperten“, verkündete gestern Parteichef Peter Strieder. „Die Bildungspolitiker haben sich bewegt“, freute sich Fraktionschef und Ex-Lehrer Klaus Böger. Kein Zweifel: Rechtzeitig zum Wahlkampfauftakt hat die Berliner SPD die Schulpolitik zur Chefsache gemacht.

Am Vorabend noch hatte es in der Fraktion heftigen Widerstand gegeben. Daß Strieder und Böger im Verein mit dem Spitzenkandidaten Walter Momper nun auch an Berlins Schulen ein Exempel sozialdemokratischer Modernität statuieren wollten, paßte den Bildungsexperten in den eigenen Reihen überhaupt nicht. Abitur in zwölf Jahren? Das hatte Böger bereits vor mehr als zwei Jahren vorgeschlagen, doch die SPD-Schulsenatorin Ingrid Stahmer hatte den Vorstoß als unrealistisch abgebügelt. Mehr Gymnasien, die bereits mit Klasse fünf beginnen? Da war es umgekehrt: Stahmer hatte sie im vergangenen Jahr einführen wollen, doch die Fraktion hatte sie zurückgepfiffen.

Seit gestern ist alles anders, und von Ingrid Stahmer redet niemand mehr. Als Galionsfigur einer Modernisierungspolitik, als schulpolitisches Pendant zur Eisernen Lady im Finanzressort taugt Stahmer nicht. Statt dessen haben Momper und Strieder, Böger und Fugmann- Heesing das Heft in die Hand genommen. „Die Quadriga hat massiv gedrückt“, beschrieb Böger den Verlauf der Sitzung. „So etwas nennt man Führung“, ergänzte Strieder.

Immerhin erübrigte das sozialdemokratische Führungsduo für die Senatorin ein gequältes Lob. Sie habe „einiges ins Laufen gebracht“ (Strieder), sie habe sich „erheblich bemüht“ (Böger). Aber Mühe allein genügt eben nicht, und so überzogen Partei- und Fraktionschef die Stahmer-Behörde mit harscher Kritik – stets mit dem Zusatz, das sei „keine Kritik“ an der Senatorin persönlich. Die Schulbürokratie erkläre immer nur, „was nicht geht“, stöhnte Böger, „ich verzweifle an der Verwaltung“. Auf die Schnelle lasse sich leider nicht nachholen, was „die Verwaltung“ jahrelang versäumt habe, erklärte Strieder.

Stahmer selbst reagiert auf solche Anwürfe nicht mehr. Daß sie nicht einmal versuchte, den Fraktionsbeschluß zu den zusätzlichen Gymnasiumsklassen als späten Erfolg ihrer eigenen Linie zu verkaufen, werten selbst ihre wenigen politischen Freunde als Zeichen endgültiger Resignation. Auch hat sie den Zeitpunkt verpaßt, rechtzeitig auf den Expreßzug zum Schnellabitur für alle aufzuspringen. Zwar widerspricht sie dem Willen der Parteispitze nicht, sie verweist aber weiterhin auf jene derzeit unerfüllbaren Bedingungen, an die sie bereits vor zwei Jahren den Wegfall des 13. Schuljahres geknüpft hatte.

Ihr einstiges Wahlkampfmotto „Mehr Argumente, weniger Schlagwörter“ hilft ihr im Politikbetrieb wenig. Viele ihrer Argumente mögen richtig sein, auch teilt der gewünschte Koalitionspartner ihre Ansichten: Mit den Vorgaben der Kultusministerkonferenz (KMK) sei eine kürzere Schulzeit für alle „gar nicht zu machen“, sagt die bündnisgrüne Schulexpertin Sybille Volkholz.

Auch Böger weiß, daß sich die KMK allenfalls „schneckenhaft“ bewegen wird. Doch darum geht es gar nicht. Seit der Hessen-Wahl fürchten auch die Berliner Sozialdemokraten, daß besorgte Eltern scharenweise zur CDU überlaufen könnten. Das wiegt schwerer als der absehbare Mißmut der Pädagogen über den Kurswechsel der Lehrerpartei. Die SPD versuche, erkannte der stellvertretende CDU-Landesvorsitzende Stefan Schlede, „ein heraufziehendes Wahlkampfthema vorzeitig zu verkleistern“. Da wird ihm kein Sozialdemokrat ernsthaft widersprechen. Ralph Bollmann

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