piwik no script img

Hellwach in Hunderten von Subplots

■ Ein langer, gleichmäßiger Fluß des Dechiffrierens: In „Witwe für ein Jahr“ läßt John Irving, der Ex-Legastheniker und Noch-Ringer der US-amerikanischen Literatur, seine Muskeln spielen

Eddie O'Hares erste schriftstellerische Arbeit ist ein Beschwerdebrief an die Inhaberin des Kunstgeschäfts von Southampton, New England. Seit Wochen hat Ruth Cole – vier Jahre alt und Schützling des 16jährigen Eddie – vergeblich darauf gewartet, daß das Foto ihrer Mutter und Zwillingsbrüder neu gerahmt an die Wand gehängt werden kann. Dies ist ein besonderer Tag: Die Zwillinge sind jetzt fünf Jahre tot, und Marion, Ruthies Mutter, verläßt gerade Mann und Tochter, wovon niemand außer Eddie etwas weiß.

Ruth, soviel ist für Eddie gewiß, wird das Foto am Ende dieses langen Tages als Trost benötigen. So muß Eddies Brief unter der Last seines einsamen Wissens werden, was er am Ende auch ist: die Erzählung eines Sommers, auch ein Bekenntnis seiner Liebe zur zwanzig Jahre älteren Marion, die Zusammenfassung und Erklärung dessen, was diesen Sommer geschah. Andererseits wird Eddies Brief im Subtext Beschwerde darüber führen, warum so etwas wie Tod und Verlassenwerden geschieht.

Der Inbegriff des Literarischen also. Ein schönes Bild und fast das Beste an „Witwe für ein Jahr“: Literatur als Beschwerde! Eddie O'Hare hatte einen Sommerjob bei dem versoffenen Kinderbuchautor Ted Cole. „Es sind immer nur ein paar Sätze, aus denen eine Schriftsteller von einem anderen etwas lernen kann“, heißt es in „Witwe für ein Jahr“. Irving verteilt diese Sätze auf sehr viele Seiten. Nicht, daß soviel daran auszusetzen wäre: Der Leser bekommt etwas Ordentliches für sein Geld, fast achthundert Seiten und sehr viele Geschichten für nur 49,90 Mark.

Ein präziser Autor ist John Irving nie gewesen. Der Ex-Legastheniker und Noch-Ringer ringt auch in diesem Buch mit der Fiktion – er muß sich an seine Figuren heranschreiben, seine literarischen Muskeln gewissermaßen spielen lassen, benötigt den Leser aber zugleich für diesen Prozeß. Letzterer braucht indes nicht allzuviel Geduld. Auf der Dechiffrier-Ebene gibt es biographische Kongruenzen zu Irvings Leben zu entdecken: Eddies Geburstag beispielsweise ist auch der Irvings. Auf der Erzählebene gibt es – neben vielen ausgelassenen Fickereien – viele teils lustige, teils widrige Begebenheiten, die Irvings Figuren immer so widerfahren.

Da ist zum Beispiel der Gärtner von Ms. Vaughn, einer der vielen Geliebten des Schriftstellers Cole. Dem Gärtner wird, als er Coles pornographische Zeichnungen der Ms.Vaughn aus der Gartenhecke sammelt, von der wütenden Frau die Leiter unter den Füßen weggedonnert. Warum die Zeichnungen in der Hecke hängen, soll hier der Kürze halber ausgespart werden – auch so mäandert Irvings Fließtext ähnlich ausufernd wie die vergeblich um Kürze und Klarheit bemühte Zusammenfassung in diesem bescheidenen Zeitungstext. Zum fließenden Mäandern paßt, daß nahezu jede Figur in diesem Buch ein Schriftsteller ist, selbst Ruthies unglückliche Mutter Marion, „nur daß sie nicht schreibt“.

Die Beziehung zwischen Leben und Fiktion (und erotischer Friktion) – in „Witwe für ein Jahr“ schließt John Irving sie besonders kurz. Irving, ein Schriftsteller, schreibt über Ruth Cole, eine Schriftstellerin, die – nun worüber schreibt sie wohl? Das Buch will viel: teils literarische Farce sein, teils Krimi, größtenteils aber Liebesgeschichte. Durch drei Fenster, gesetzt als Metapher für kritische Zeiten, schaut Irving auf Ruthies Leben: Als sie vier, als sie sechsunddreißig Jahre alt ist und als sie sich, 1995, zum erstenmal verliebt. „Witwe für ein Jahr“ erzählt nicht allein Ruthies Geschichte, sondern davon, wie Menschen zu denen werden, die sie irgendwann sind.

Kopfüber hängt er also in der Hecke, der Gärtner, festgeklemmt in seinen Schuhen, und versucht per Sit-up deren Schnürsenkel zu erreichen; dann landet er kopfüber in einem tintenverseuchten Zierbrunnen, und dann... Ja, dann? Tatsächlich ist es ein bißchen viel tragikomische Ulkigkeit, zu der sich Irvings frühere Grotesken im Laufe vieler dicker Romane gemildert haben. Dennoch: Das gleichmäßige Mäandern in Hunderten von Subplots ist dieses Mal das wesentlichste Erzählproblem.

Immer wieder muß man als Leser die Augen aufreißen, damit einem in diesem langen Fluß die wirklich tollen Sätze nicht verlorengehen. Zum Beispiel der hier, ganz am Anfang: Ruth, wie gesagt, wird unter dem Unstern zweier toter Brüder geboren, und „daß Ruth Cole zu jener seltenen Mischung aus hochangesehener literarischer Schriftstellerin und internationaler Bestseller-Autorin heranwuchs, ist weniger bemerkenswert als die Tatsache, daß es ihr überhaupt gelang, heranzuwachsen.“ Da klicken Wirklichkeit und Fiktion tatsächlich aufeinander: An allem Anfang ist man hellwach. Anke Westphal

John Irving: „Witwe für ein Jahr“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Irene Rumler. Diogenes Verlag, Zürich 1999, 761 S., 49,90 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen