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„Über bestimmte Dinge spricht man nicht“

Bei der Debatte um eine kontrollierte Heroinabgabe wird die Beschaffungskriminalität von den Gegnern und Befürwortern nur allzugern im Munde geführt. In Wirklichkeit ist sie aber eine große Unbekannte  ■ Von Plutonia Plarre

Alle reden über die Beschaffungskriminalität. Aber wer bei der Polizei nachfragt, bekommt Überraschendes zu hören: Nichts Genaues weiß man nicht. Dabei existiert das Problem mindestens so lange, wie in Berlin Heroin zu haben ist: seit bald 30 Jahren.

„Zu diesem Thema etwas zu sagen hat viel mit Wahrsagerei zu tun“, weigert sich der Leiter des Rauschgiftdezernats der Kriminalpolizei, Rüdiger Engler, eine Einschätzung der Lage abzugeben. Seine Begründung: Die Aufklärungsquote bei den von Drogenabhängigen bevorzugten Straftaten wie Wohnungseinbrüchen und Diebstahl aus Kraftfahrzeugen sei mit 10 bis 12 Prozent „zu gering“, um verläßliche Aussagen über das große Dunkelfeld der Täter und deren Motive machen zu können. „Man kann dazu nur Vermutungen abgeben“, so Engler.

„Die Beschaffungskriminalität hält sich in etwa auf dem gleichen Level“, meint auch der Leiter der für Kreuzberg und Neukölln zuständigen Direktion 5, Klaus Karau. Nicht nur Eigentumsdelikte, sondern auch Raubtaten gehören dazu. „Bevorzugte Opfer sind schwache Menschen, zum Bespiel alte Damen, weil die Täter selbst körperlich nicht sehr stark sind“, weiß Ursula Falckenstern, Krimiminaldirektorin der Direktion 5.

Die Langfinger haben sich auf Supermärkte und Warenhäuser spezialisiert. „Gerade in zentral gelegenen Einkaufszentren ist der Einzelhandel mit der Beschaffungskriminalität extrem konfrontiert“, erklärt der Geschäftsführer des Einzelhandelsverbandes, Nils Busch-Petersen. In Hinblick auf die große Dunkelziffer beim Ladendiebstahl vermag aber auch er keine seriöse Schätzung abzugeben, wie viele Taten auf das Konto von Drogenabhängigen gehen. Nach Schätzungen des Einzelhandels werden jeden Tag Waren im Wert von einer halben Million Mark geklaut. Nur jeder zehnte bis zwanzigste Dieb wird geschnappt.

Das Landesdrogenreferat hat sich vor zwei Jahren bei der Erstellung des Drogen- und Suchtberichtes einmal die Mühe gemacht, die polizeiliche Kriminalitätsstatistik auf die Merkmale Alkohol und harte Drogen abzuklopfen. Das Ergebnis: Von insgesamt 164.563 Tatverdächtigen, die 1996 ermittelt wurden, betrug der Anteil aller Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluß 11,6 Prozent, der Anteil der Konsumenten harter Drogen dagegen nur 1,6 Prozent. Im Vergleich zum Alkohol, so der Bericht, „spielen die Straftaten der Konsumenten harter Drogen eine sehr untergeordnete Rolle“.

Die Zahl der Menschen, die in Berlin intravenös Heroin injizieren, wird auf 7.000 bis 10.000 geschätzt. Davon befinden sich rund 2.500 in einem Methadon-Substitutions-Programm, 800 bis 2.000 sind auf der offenen Drogenszene anzutreffen. Aufgrund der Verdrängungspolitik wird der Straßenhandel an wechselnden Stellen abgewickelt. Laut Polizei gewinnt der Kleinhandel in U-Bahnhöfen zunehmend Bedeutung.

Heroinabhängig sein heißt nach Auffassung von Drogenberatern aber nicht, zwangsläufig kriminell werden zu müssen. Die Mehrzahl aller Abhängigen schaffe es, sich auf legalem Weg über Wasser zu halten, meint Streetworker Josef Kleine. „Viele gehen einer geregelten Arbeit nach.“ Rauschgiftfahnder Engler bezweifelt dies. „Ab einem bestimmten Punkt ist eine Drogenkarriere nicht mehr mit legalen Mitteln zu finanzieren.“ Der Projektleiter der Ambulanz für integrierte Drogenarbeit, Bernd Westermann, kennt Leute, „die seit 25 Jahren auf der Szene sind und nie geklaut haben. „Eine ganze Reihe“ verdiene sich den Stoff durch sogenannte szenetypische Verrichtungen wie die Vermittlung von Dealern.

Aber die Drogenberater wissen natürlich auch, daß vielen Junkies nicht anderes übrigbleibt, als Straftaten zu begehen. In den Vorstrafenregistern stehen „Latten von Ladendiebstählen“, weiß Westermann. „Kaffee, Schnaps, Parfüm, Shampoo, Bettwäsche, alles, was locker ist, wird mitgenommen.“ Er kennt etliche Abhängige, die „10, 15 und 18 Knastjahre“ auf dem Buckel haben. Frauen tauchten bei der Beschaffungskriminalität weitaus weniger auf, weil viele „anschaffen gehen“.

Der tägliche Eigenbedarf, der Rückschlüsse auf das benötigte Geld zuließe, ist so verschieden, daß sich die Drogenberater auf keinen durchschnittlichen Pro- Kopf-Verbrauch festlegen wollen. Ein „niedrigdosierter“ Junkie komme vielleicht mit 80 Mark am Tag aus, ein „hochdosierter“, der sich „wild zuballert“, benötige dafür schon mehrere hundert Mark am Tag.

Der an der Universität Gießen tätige Professor für Kriminologie, Arthur Kreuzer, hat 1988 eine Intensivbefragung von 100 intravenös Injizierenden durchgeführt. 31,7 Prozent finanzierten ihren Bedarf durch Beschaffungskriminalität, 36 Prozent durch Handel, 20 Prozent legal und 11 Prozent durch Prostitution.

„Die Beschaffungskriminalität ist ein Problem. Aber wir haben es einigermaßen im Griff“, sagt der Geschäftsführer eines Berliner Warenhauses. Die Angst, von den Kunden in die Schmuddelecke gerückt zu werden, ist so groß, daß von den befragten Häusern nur anoyme Stellungnahmen zu haben sind. „Über bestimmte Dinge spricht man nicht. Der Negativtouch ist zu groß“, ist man sich einig. Mit Überwachungstechnologie und „Manpower“ (Detektive) versuchen sich die Häuser vor Diebstahl zu schützen. Drogenabhängige seien leicht an ihrem „heruntergekommenen Outfit“ zu erkennen. Aber im Gegensatz zu anderen Dieben, die sich vor der Tat meist länger umschauten, so ein Erfahrungswert, „schlage“ ein Drogenabhängiger „blitzschnell“ zu. „Dem Junkie ist es egal, ob der Anzug Größe 56 oder 54 hat. Hauptsache, er ist teuer und findet Abnehmer.“ Das gestalte die Abwehrmaßnahmen schwieriger.

Daß ertappte Drogenabhängige gewalttätig werden, wird als absolute Ausnahme geschildert. Nur von einem Kaufhaus ist bekannt, daß ein Detektiv einmal mit einer Spritze bedroht worden ist. Junkies wirkten eher gleichgültig, wenn sie erwischt würden, heißt es. „Es ist ihnen ganz egal, daß sie der Polizei übergeben werden.“ Streetworker Josef Kleine erklärt das damit, daß Abhängige unter Opiateinfluß „äußerlich sehr cool“ wirken können. In Wirklichkeit stünden sie aber unter einem gewaltigen Druck. Dem Druck, daß sie klauen müssen, um sich den nächsten Schuß verpassen zu können, „Sie haben ständig mit die Angst im Nacken, in den Knast zu kommen.“ Denn Knast bedeutet nicht nur Freiheitsentzug, sondern, noch schlimmer: Auf „turkey“ kommen.

So unbekannt die Beschaffungskriminalität ist, so sehr wird damit aber Politik gemacht. Allen voran von Innensenator Eckart Werthebach (CDU). „Für die Bevölkerung ist die Beschaffungskriminalität in ihrer typischen Form als Raub und Ladendiebstahl direkt spürbar. Damit geht eine empfindliche Beeinträchtigung des subjektiven Sicherheitsgefühls einher“, verwahrt sich Werthebach gegen die Einrichtung von Druckräumen und die staatlich kontrollierte Abgabe von Heroin.

Aber auch seine politischen Gegner führen die Beschaffungskriminalität gern im Munde. Den Bürwortern einer akzeptierenden Drogenarbeit dient sie als gewichtiges Argument für eine kontrollierte Heroinabgabe an Schwerstabhängige. Ihr Vorbild ist die Schweiz, wo die Beschaffungskriminalität durch eine staatliche Heroinabgabe deutlich gesenkt werden konnte.

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