piwik no script img

„Mit dem Ausmaß der Zerstörung nicht zufrieden“

Vor 50 Jahren begann der erste und einzige Hamburger Prozeß gegen Nazi-Täter der Reichspogromnacht vom November 1938: Auf der Anklagebank saßen 34 Synagogen-Brandstifter von Harburg  ■ Von Bernhard Röhl

Vor genau 50 Jahren, am 14. März 1949, begann vor dem Hamburger Schwurgericht der sogenannte Harburger Synagogen-Brandstifterprozeß, der erste und einzige in Hamburg gegen Nazis, die in der Reichspogromnacht gewütet hatten. Auf den Anklagebänken saßen damals 34 Männer, die im November 1938 die Uniformen von SA-Führern trugen. Zu ihnen gehörten der frühere Kreisleiter der NSDAP, Wilhelm Drescher, der sich bereits 1930 der Hitler-Partei angeschlossen hatte, der einstige SA-Standartenführer Rolf Meyer, der ehemalige SA-Oberführer Willi Friederici, der seit 1926 „Parteigenosse“ war und weitere „alte Kämpfer“. Vor Gericht bestritten die Angeklagten ihre Schuld oder bezichtigten ihre einstigen „Kameraden“.

Am 9. November 1938 hatte der SA-Gruppenführer Böhmker – Leiter des SA-Oberabschnittes „Nordsee“ – seinen Unterführern telefonisch und auch schriftlich den Einsatz zur „Reichskristallnacht“ befohlen. „Sämtliche jüdische Geschäfte“ seien „sofort zu zerstören“, Synagogen „in Brand zu stecken“ und Juden „bei Widerstand sofort über den Haufen zu schießen“.

Einheiten von SA und SS wüteten in Hamburg besonders im Grindelviertel und in den Geschäften am Neuen Wall. Sie verwüsteten die Synagoge am Bornplatz, zerstörten die Läden jüdischer Besitzer, plünderten Warenbestände und schleuderten Schaufensterpuppen in das Alsterfleet. Am 10. November 1938 sahen Passanten auch auf dem Steindamm in St. Georg eingeschlagene Ladenscheiben, die Glassplitter knirschten unter den Schuhsohlen.

„In Hamburg und einzelnen Hamburger Stadtteilen setzte sich das Pogrom ... auch am darauffolgenden Tag fort, weil die dortigen NS-Funktionäre mit dem Ausmaß der Zerstörung in der vorhergehenden Nacht nicht zufrieden waren“, schreibt Frank Bajohr in seinem 1997 erschienenen Buch Arisierung in Hamburg.

Am Vormittag des 10. November 1938 erörterte Kreisleiter Drescher mit einigen SA-Führern die Situation in Harburg. Zu diesem Gespräch erklärte der frühere SA-Haupt-sturmführer Hans Sievers vor Gericht, er habe vom Kreisleiter und vom SA-Stan-dartenführer Rolf Meyer die Befehle erhalten, um 19.30 Uhr mit zwei SA-Stürmen die Harburger Synagoge an der Eißendorfer Straße, die Leichenhalle am Schwarzenberg und Geschäfte jüdischer Eigentümer zu zerstören. Auf diese Weise sollte nachgeholt werden, was die SS am Vortag „versäumt“ habe.

In Zivilkleidung, mit Pechfackeln, Äxten und Sprengkörpern bewaffnet, zogen SA-Leute am Abend zur Synagoge und verwüsteten die Inneneinrichtung. „Räuchert das Judenpack aus!“ brüllte einer der Rädelsführer, der sich den Talar des Rabbiners umgehängt hatte. Die Synagoge blieb nur von der Sprengung verschont, um benachbarte Häuser nicht zu gefährden. Die Leichenhalle wurde jedoch gesprengt und der Leichenwagen verbrannt. Anschließend kam es zur Zerstörung und Plünderung von Läden als Abschluß des Pogroms.

Zur Tarnung hatte sich Drescher in das Lager der zum „Arbeitsdienst“ gezwungenen Mädchen begeben und dort an einem Abendessen teilgenommen. Bei Tisch erhielt er die Information, daß die Synagoge und die Leichenhalle brennen würden. Wie Zeugen vor Gericht aussagten, hielt er am Tatort eine flammende Rede, die mit dem Ausruf „Juda verrecke!“ endete. Er habe diesen Ausruf niemals während seiner Amtszeit benutzt, behauptete der Angeklagte vor Gericht.

Bereits am 1. April 1933 hatte der SA-Mann Louis Lies sich vor einem Geschäft in Harburg während der Boykottaktion „Deutsche, kauft nicht bei Juden“ aufgebaut. Mehrere der über 140 Zeugen des Prozesses beschuldigten ihn, er habe am Abend des 10. November 1938 Geschäfte jüdischer Besitzer zerstört. Lies behauptete, er sei zu Hause gewesen. Der antifaschistische Zeuge Schweißhelm habe ihn fälschlicherweise beschuldigt.

„Ich kann meinem alten Kameraden und Leidensgenossen Lies helfen. Ich kenne Schweißhelm, er war schon früher ein übler kommunistischer Hetzer und hat dafür auch seine Schläge erhalten. Nach 1933 wäre es mir ein leichtes gewesen, ihn dorthin zu bringen, wo er hingehört, aber es wurde ihm kein Haar gekrümmt“, eilte der frühere SA-Oberführer Friederici dem Angeklagten zur Hilfe.

Auf die Frage des Landgerichtsdirektors Dr. Valentin, wohin der Zeuge denn „gehörte“ und ob damals gegen ihn ein Verfahren wegen Hochverrats hätte eingeleitet werden müssen, bekräftigte der frühere SA-Führer, daß man Schweißhelm besser zum Schweigen gebracht hätte.

Der frühere NS-Reichstagsabgeordnete und Gauamtsleiter Friedrich Lütt, seit 1920 Gefolgsmann Hitlers, behauptete, er habe in Harburg leider vergeblich versucht, Zerstörungen und Plünderungen zu verhindern. Etliche Zeugen beschuldigten ihn hingegen, er habe sich bei der Aktion besonders aggressiv hervorgetan.

Staatsanwalt Bielert betonte in seinem Plädoyer, in diesem Prozeß gehe es nicht darum, politische Verfehlungen zu bestrafen, sondern schändlichste Verbrechen, wie sie in dieser Form und in diesem Umfang zuvor in keiner Kultur begangen wurden. Weiter forderte er, die Verurteilung müsse nach deutschem Staatsrecht erfolgen wegen Landfriedensbruchs, Brandstiftung und weiterer Taten, in zweiter Linie nach dem Kontrollratsgesetz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er skizzierte die Hintergründe und die Ausführung des Terrors.

Bielert kritisierte das beharrliche Leugnen der Straftaten insbesondere durch die Hauptangeklagten. Kreisleiter Drescher habe im Internierungslager mit seinen Gefolgsleuten besprochen, wie sie die Ermittlungen erschweren könnten. Trotzdem sei es gelungen, das von den Angeklagten errichtete Lügengebäude restlos einstürzen zu lassen. Besonders lächerlich seien ihre Versuche gewesen, die Machtfülle ihrer politischen Stellung zu bagatellisieren. Staatsanwalt Bielert beantragte gegen den früheren Kreisleiter Drescher vier Jahre und sechs Monate Zuchthaus, gegen den SA-Standartenführer Rolf Meyer drei Jahre und sechs Monate Zuchthaus. Die geringste Strafe von einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis sollte für Altnazi Friedrich Lütt gelten. Nur in zwei Fällen beantragte der Staatsanwalt Freisprüche aus Mangel an Beweisen.

Am 27. April 1949 verkündete das Hamburger Schwurgericht durch Landgerichtsdirektor Dr. Valentin die Urteile: NS-Kreisleiter Drescher kam mit drei Jahren und sechs Monaten Gefängnis davon, der SA-Standartenführer Meyer mit drei Jahren und drei Monaten Gefängnis. Insgesamt erhielten 16 der Angeklagten Gefängnisstrafen, die bis zu vier Monaten hinunterreichten.

Sechs Angeklagte wurden freigesprochen, zu ihnen gehörte der frühere SA-Oberführer Friederici. Gegen 12 Angeklagte stellte das Gericht das Verfahren ein, „weil die Gerechtigkeit nach zehn Jahren die gerichtliche Verfolgung ihrer Straftaten nicht mehr erfordert“. Antifaschisten kritisierten damals das milde Urteil gegen Brandstifter und Plünderer.

In den ersten Tagen nach dem Novemberpogrom im Jahre 1938 verhaftete die Gestapo in Hamburg mindestens 879 jüdische Menschen, sie mußten längere Zeit in Fuhlsbüttel oder in Konzentrationslagern verbringen, vor allem in den KZs Oranienburg und Sachsenhausen. Der Jahreslagebericht 1938 des Oberabschnitts Nordwest des Sicherheitsdienstes der SS – der auch für Hamburg zuständig war – konstatierte für das Arbeitsgebiet „Judentum“, daß das Pogrom „von SA und SS durchgeführt“ worden sei.

Die Harburger Synagoge wurde 1940 abgerissen. Zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht wurde 1988 eine Nachbildung des Portals an derselben Stelle errichtet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen