piwik no script img

Keine neuen Leichen im Brüsseler Keller

■ Der Bericht des „Rates der Weisen“ über Vetternwirtschaft und andere Unregelmäßigkeiten in der EU-Kommission wartet mit heftigen Vorwürfen auf. Doch was bei vielen jetzt fassungsloses Entsetzen auslöst, ist nicht erst seit gestern bekannt. Für die Zukunft fordert der Expertenrat einen deutlichen Verhaltenskodex für die Kommission.

Die Kritik läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Oberflächliche Durchführung der Kontrollen ... Die Lösung des Problems der zu geringen Personalausstattung im Überwachungsbereich, auf die sich die Kommission immer wieder beruft, fällt in ihre eigene Organisationsgewalt.“ Vorwürfe wie dieser tauchen in jedem Kapitel des 150 Seiten dicken Zwischenberichts des „Rates der Weisen“ auf, der in Brüssel seit Montag abend für so viel Aufregung sorgt. Das Zitat aber stammt gar nicht aus dem Bericht. Es findet sich in einer Stellungnahme des grünen Abgeordneten Wilfried Telkämper für den Haushaltskontrollausschuß vom 26. März 1996.

Chronisten der unendlichen Brüsseler Skandalchronik sind sich einig: Die Nachrichtenlage hat sich durch die Fleißarbeit der fünf Experten nicht geändert. Das war auch nicht zu erwarten, denn die meisten Mitglieder des Ende Januar vom Europaparlament beauftragten Gremiums brauchten nur auf eigene Erkenntnisse zurückzugreifen. Der Franzose Pierre Lelong und der Niederländer André Middelhoeck waren selbst schon Präsidenten des Europäischen Rechnungshofes. Der hat in seinen Jahresberichten vieles von dem längst veröffentlicht, was jetzt fassungsloses Entsetzen auslöst. Auch der Belgier Walter van Gerven hatte früher als Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof einen guten Draht zu Brüsseler Affären. Lediglich der Hauptprüferin beim schwedischen Rechnungshof, Inga-Britt Ahlenius, und dem spanischen Rechtsprofessor Carillo Salcedo traut man den unverstellten Blick von außen zu.

Der Expertenbericht ist die Paperback-Gesamtausgabe eines Fortsetzungsromans, dessen Kapitel in den letzten Jahren in jeder Zeitung nachzulesen waren. Das bestreiten die Experten auch gar nicht. Spätestens 1992 habe jeder im Bericht des Europäischen Rechnungshofes nachlesen können, wo beispielsweise im Tourismusbereich die Probleme lagen.

Im Dossier „MED“, in dem es um die Mittelmeerprogramme geht, wird festgestellt, daß der verantwortliche Kommissar Manuel Marin zwar im Prinzip angemessen reagiert habe, als der Rechnungshof die Mittelverwendung kritisierte. Allerdings seien zwischen Rechnungshofbericht und ersten internen Untersuchungen nochmals 20 Monate verstrichen – eine viel zu lange Frist. Die eigentliche Verantwortung liege aber bei Marins Vorgänger und bei der Kommission als Ganzes. Dieser Vorwurf gelte nicht nur für MED, sondern für alle von den Experten unter die Lupe genommenen Programme. An die Adresse der Kommission schreiben sie: „Sie hat ein neues Programm lanciert, politisch bedeutsam und sehr kostspielig, ohne über die nötigen Mittel zu verfügen, um es durchzuführen.“

Beim Amt für humanitäre Hilfe, „Echo“, habe Kommissar Marin Kenntnis davon gehabt, daß Mittel unkorrekt ausgegeben worden seien. Er habe die unhaltbare Situation aber mehrere Jahre lang toleriert. Auch hier trifft die Kritik nach Ansicht der Experten vor allem die Kommission als Ganzes, weil sie „eine wichtige politische Initiative angestoßen hat, ohne daß die betreffende Abteilung, nämlich Echo, über die notwendigen Ressourcen verfügt hätte, um diese Politik umzusetzen“.

Im Gegensatz zu Marin habe Edith Cresson jahrelang gar nicht reagiert, obwohl sie Kenntnis von schweren Unregelmäßigkeiten beim Bildungsprogramm „Leonardo“ gehabt habe, für das die französische EU-Kommissarin zuständig war. Erschwerend komme hinzu, daß sie dem Kommissionspräsidenten die Fakten jahrelang vorsätzlich verschwiegen habe. Außerdem habe sie gegenüber dem Parlament die Ergebnisse von Leonardo 1 beschönigt, um die parlamentarische Zustimmung zu Leonardo 2 nicht zu gefährden. Cresson kommt auch im Kapitel „Vetternwirtschaft“ am schlechtesten weg. Der Fall des befreundeten Zahnarztes, den sie mit einem lukrativen Beratervertrag versorgt hat, wird nochmals ausführlich dargestellt.

Nur zwei weitere Namen werden in den Zusammenhang mit Günstlingswirtschaft gebracht: Monika Wulf-Mathies, die bei der Einstellung eines Mitarbeiters den vorgeschriebenen Weg der Stellenausschreibung nicht eingehalten habe, und der portugiesische Entwicklungskommissar Joao de Deus Pinheiro. Zwar sei die Einstellung seines Schwagers strikt nach den Vorschriften erfolgt. Der Rat der Weisen ist aber überzeugt, daß es generell ausgeschlossen werden sollte, daß ein Kommissar in seinem Kabinett einen Freund oder Verwandten beschäftigt.

Überhaupt fordert der Expertenrat dringend einen deutlichen und engen Verhaltenskodex für die Kommission. In den letzten zehn Jahren seien die Kompetenzen von Europas Exekutive enorm gewachsen. Verwaltungskultur, Verantwortungsgefühl und das Bewußtsein für gutes Finanzmanagement seien leider nicht im selben Umfang entwickelt worden. Zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung dürfe nicht als Ausrede herhalten. Zahlreiche Posten innerhalb der Kommission seien unbesetzt. Die Kommission sei selbst dafür verantwortlich, übertragene Aufgaben ordentlich zu erledigen und keine Aufgaben zu übernehmen, für die sie das nicht gewährleisten könne.

Wer neue Leichen im Keller der Brüsseler Behörde erwartet hat, wurde enttäuscht. Die Experten sind aber auf bislang unbekannte Unregelmäßigkeiten gestoßen, die sie in der kurzen Zeit nicht einarbeiten konnten. Die Ankündigung mag mancher Ex-Kommissar mit gemischten Gefühlen lesen: Fortsetzung folgt – beim Abschlußbericht im April. Daniela Weingärtner, Brüssel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen