: Nibelungenhafte neue Republik
■ Christoph Schlingensief ist wieder in Makedonien, um Flüchtlinge zu retten. Nach seiner ersten Tour brach an der Berliner Volksbühne sein politaktivistisches Projekt zusammen. Was kann politisches Theater leisten? Ein Gespräch mit dem Dramaturgen Carl Hegemann
Carl Hegemann, 1949 geboren, studierte Soziologie und Philosophie. Als Dramaturg arbeitete er schon 1992 an der Volksbühne, dann am Bochumer Schauspielhaus und dem Berliner Ensemble. Nach Christoph Schlingensiefs Wahlkampfprojekt „Chance 2000“, das er als parteieigener „Chefideologe“ mitkonzipierte und begleitete, ist er in dieser Spielzeit an die Berliner Volksbühne und zu Frank Castorf zurückgekehrt.
taz: In der Volksbühne scheint Krieg zu herrschen, weil die Mitarbeiter unterschiedliche Ansichten haben, wie auf den Krieg zu reagieren sei. Nachdem der Hausregisseur Christoph Schlingensief vor drei Wochen zum ersten Mal nach Makedonien gefahren ist, um Flüchtlinge zu retten, ist sein politaktivistisches Projekt an der Volksbühne zusammengebrochen. Die Mitarbeiter haben sich von seiner Arbeit distanziert, er selbst fühlte sich hinausgeworfen. Was war da los?
Carl Hegemann: Als der Krieg begann, waren im Theater alle der Ansicht, daß man nicht so tun könne, als wäre nichts. Daraufhin gab es einige Einfälle wie den, daß wir, bis der Krieg zu Ende ist, nur noch Castorfs „Schmutzige Hände“ von Sartre spielen, weil das ein real existierender Beitrag zu dem Jugoslawienthema ist, der zeigt, wie Pragmatismus in Nationalismus umschlagen kann. Aber das hätte auch keinem genutzt und hätte eitel gewirkt. Auch mit Schlingensiefs „Berliner Republik“ hätte es ein Forum gegeben, die ungeheuren Ereignisse zu kommentieren. Doch das war Schlingensief zuwenig. Angesichts des Krieges verstärkte sich sein Bedürfnis, diese Arbeit, die für ihn ein Rückfall ins Stadttheater war, zu zerstören, und inzwischen hat er das leider auch getan.
Wieso?
Wahrscheinlich, weil er das relative Gelingen innerhalb des konventionellen Theaterkontextes nicht ertragen konnte. Mit „Chance 2000“ haben wir die Grenzen der theaterimmanenten Ästhetik weit überschritten. So weit, daß es meiner Ansicht nach keine andere Alternative gab, als uns vorläufig wieder auf die Bühne zurückzuziehen, wenn wir weiterhin Theater machen wollten, oder das Theater wirklich zu verlassen.
Wenn man die sogenannte vierte Wand, die den Theaterraum von der Realität trennt, vollständig abgerissen hat, wie es bei Chance 2000 geschah, und also nicht mehr weiter ausbrechen kann, muß man die Wand wieder aufbauen. Das ist einfach so. Das Theater hat seine eigenen Strukturen, und man kann eine Zeitlang mit ihnen spielen, dann schnellen sie zurück und verlangen ihr Recht. Will man draußen bleiben, ist das kein Theater mehr, sondern Politik oder Wahnsinn oder was auch immer.
Sah Schlingensief das auch so?
Ja. Darüber waren wir uns ursprünglich einig gewesen. Es war auch Schlingensiefs Idee gewesen, eine Boulevardkomödie zu machen. Er hatte selbst die Nase voll davon, nie zu wissen, ob man sich gerade in einer politischen Sitzung befindet oder im soundsovielten Akt eines Theaterstückes. Während der Proben zur „Berliner Republik“ zeigte sich aber, daß die Sache bedrohlich gut funktionierte. Alle waren begeistert davon, wie schnell und hintergründig das Theater auf politische Vorgänge reagieren kann, auf den Rücktritt Lafontaines etwa.
Die Inszenierung schien also zu gelingen, und dieses Gelingen konnte Schlingensief offenbar nicht ertragen. Vielleicht auch, weil es ein Gelingen war, bei dem nicht er es war, der alle Fäden in der Hand behalten mußte. Und in dieser Situation entstand bei ihm der schon von früher bekannte Drang, alles, was gelungen war, zu zerstören und die Inszenierung erst in eine Revue, einen bunten Abend, ein Ritual oder eine Diskussionsveranstaltung umzufunktionieren und dann zu kippen.
Er hätte auch, als der Krieg ausbrach, sagen können: In meiner Arbeit kommt schon alles vor. Das Nibelungenhafte der neuen Republik. Schröders Sehnsucht nach der Katastrophe. Die moralische Begründung barbarischer Aktionen am Beispiel der KZs und Massenmorde im sogenanntenDeutsch-Südwestafrika.
Schlingensief aber verließ seine „Berliner Republik“, reiste mit seinen beiden Hauptdarstellern in die reale Welt nach Makedonien und wurde nach seiner Rückkehr auf einer Unterschriftenliste als potentieller Zerstörer des Theaters abgelehnt, hauptsächlich von den nichtkünstlerischen Mitarbeitern. Was hat sie gestört?
Schlingensief hat die Volksbühne immer überfordert. Aber die Volksbühne hat das mitgemacht, zähneknirschend zum Teil, aber auch im Bewußtsein, daß er ein wichtiger Teil des Theaters ist. Castorf hat sich immer hinter ihn gestellt, und die Abteilungen haben ihm jeden Wunsch erfüllt. Wenn er morgens alles umschmiß und neue Kostüme forderte, zwölf Meßdienergewänder etwa – die waren am Abend da. Das war echte praktische Liebe. Um so härter war der Absturz für die Mitarbeiter, als sie das Gefühl bekamen, instrumentalisiert zu werden. Als sie aus der Zeitung erfuhren, daß die Volksbühne 50 Flüchtlinge aufnehmen will.
Das Problem war also speziell diese Reise?
Die Makedonienreise war ein Schnellschuß, nur kurz mit der Leitung abgesprochen. Weil Bernhard Schütz und Irm Hermann mitgefahren waren, konnten die Vorstellungen in ihrer Abwesenheit nicht regulär durchgeführt werden. Am ersten Abend gab es eine Diskussion mit sozialdemokratischen und jugoslawischen Kriegsgegnern und ein Livegespräch mit Schlingensief aus Skopje, am nächsten Tag mußten wir die Vorstellung kurzfristig absagen, weil wir über die Versuche mit der Ausländerbehörde und dem Außenministerium, Schlingensief in Skopje zu helfen, es nicht geschafft hatten, eine vertretbare Ersatzveranstaltung für den Abend zustande zu kriegen. Und das geht in einem Haus wie der Volksbühne nicht. Sogar Frank Castorf hatte irgendwann den Eindruck, daß Christoph Schlingensief ihn und alles funktionalisieren will.
Wieso? Hat er nicht freiwillig einen Brief an das Außenministerium geschrieben und Schlingensiefs Fahrt nach Makedonien damit öffentlich unterstützt?
Ja, aber für Schlingensief stellt sich das anders dar: Er war in Makedonien und hat mit Flüchtlingshelfern gesprochen. Er weiß, daß es dort brennt, und will den Außenminister mit der Bescheuertheit seiner Argumentation konfrontieren, daß die Lage einerseits mit dem Holocaust zu vergleichen sei, andererseits die Grenzen dichtgemacht werden müssen und die Opfer nicht einmal von ihren Angehörigen gerettet werden dürfen. Das haben wir schriftlich, daß das leider gerade nicht geht. Auf dieses eklatante Mißverhältnis also hat Frank Castorf mit seinem Brief an den Außenminister hingewiesen. Und die Leute im Außenministerium waren ganz beflissen und versicherten, sie würden persönlich versuchen, in Einzelfällen unbürokratisch zu helfen.
Das klingt nicht legal.
Genau. Angesichts einer illegalen, weil grundgesetz- und völkerrechtswidrigen Kriegspolitik haben Beamte begonnen, illegale Möglichkeiten zu sondieren. Daraufhin wollte Schlingensief, daß die Volksbühne Druck macht auf das Außenministerium. Castorf sollte innerhalb der nächsten 48 Stunden einen Termin mit dem Außenminister fordern, um diese Flüchtlingssituation zu thematisieren.
Daraufhin haben Leute im Haus, die aus dem Osten kommen, kritisiert, es ginge ihm, typisch westdeutsch, bloß um humanitäre Aktionen und das eitle Treffen mit prominenten Politikern, nicht um eine Kritik an den Nato-Verbrechen. Aber Castorf, der sich nicht für Fischer und dergleichen Politiker interessiert, wollte nicht.
Was ist denn so schlimm daran, sich mit Joschka Fischer zu treffen?
Castorf wollte eben nicht. Trotzdem hat er das Projekt verstanden. Nur weil er mitten in einer Inszenierung steckt, Dostojewskis „Dämonen“, hat er das Ansinnen nicht sofort abgelehnt, sondern beiseite gelegt. Und Schlingensief fühlte sich verraten. Und Castorf fühlte sich auch verraten, weil Schlingensief den Theaterbetrieb vernachlässigte. In der ersten Vorstellung nach seiner Reise verzichtete er auf das Bühnenbild, ließ sich statt dessen ein Flüchtlingszelt aufbauen und zeigte seine Videoaufnahmen aus Makedonien. Und die Belegschaft, die sowieso schon mächtig irritiert war, stieg jetzt aus. Mit einem Engagement gegen den Krieg, das die Einquartierung von Flüchtlingen und das Ausfallen von Vorstellungen vorsieht, wollten sie nichts zu tun haben. Das war ein Versuch, sich der Instrumentalisierung durch Schlingensiefs Fortsetzung des Theaters mit anderen Mitteln zu entziehen.
Heißt das, daß es die Belegschaft satt hat, politisches Theater zu machen?
Nein. Aber auch ein politisches Theater ist in erster Linie ein Theater. Und Experimente mit dem Theater haben immer den Effekt, gerade die Strukturen zu befestigen, die sie in Frage stellen. Dirk Baecker sagt, das Theater ist eine „Einmalerfindung“: Jeder Versuch, seine Grenzen zu überschreiten, bestätigt diese reflexiv. Jeder Versuch, es abzuschaffen, rettet es, weil er die Unvermeidlichkeit seiner Strukturen zeigt, etwa die Trennung zwischen Zuschauern und Akteuren, die notwendige Vorgabe eines Skripts und das durch den Theaterrahmen begrenzte Spiel.
Wir kommen auf die Dauer nicht darum herum, diese zentralen Strukturen zu akzeptieren, oder wir müssen das Theater quittieren. Die Dadaisten und Brechts episches Theater haben diese Erfahrung schon vor Schlingensief gemacht. Für ihn aber war eine solche Vorstellung unerträglich.
Das fassen andere als Kriegserklärung ans Theater überhaupt auf und sehen ihre psychischen und materiellen Existenzgrundlagen in Frage gestellt. Deshalb arbeitet man doch normalerweise am Theater, weil es seine eigenen Realitäten herstellt und einen vom gewöhnlichen Realitätsdruck ein Stück weit befreit.
Was also ist die Alternative für ein politisches Theater in dieser Situation?
Die Antwort, die vom Außenministerium auf Castorfs Brief kam, hat uns die Möglichkeit gegeben, auf einen zentralen Widerspruch der politischen Argumentation öffentlich hinzuweisen. Das hätte man sofort in eine Aufführung der „Berliner Republik“ integrieren können. Wobei die reale Möglichkeit, daß das Theater in ein Flüchtlingslager umfunktioniert worden wäre, nie bestanden hatte. Für den Fall, daß Christoph wirklich etwas erreicht hätte und 50 Leute zusätzlich rausgeholt worden wären, hätten schon das Deutsche Rote Kreuz und das Diakonische Werk bereitgestanden.
Aber hier geht es um die Gemengelage von persönlicher Opferbereitschaft und Eitelkeit, demokratischen Strukturen und ästhetischen wie strukturellen Gesetzmäßigkeiten und darum, wie das Theater sie reflektiert. Schlingensief ist ein Stachel im Fleisch des Theaters. Wenn man ihn abschaffen würde, wäre das Theater genauso tot, wie wenn es sich von ihm abschaffen ließe.
Wie geht es jetzt weiter? Ist das Schlingensief-Projekt zu Ende?
Nein, Schlingensief beschäftigt sich weiter mit der Flüchtlingssituation, auch wenn da keiner was von wissen will. Am Montag ist er wieder nach Makedonien gefahren. Das Theater unterstützt ihn, hat aber eindeutig festgestellt, daß es ein Theater bleiben will. Trotzdem werden sich verschiedene Flüchtlingsinitiativen, Verwaltungsvertreter und Politiker zu einem Runden Tisch treffen, und zwar in der Volksbühne. Es ist eine große Spannung im Haus, fast wie zu Beginn von Castorfs Intendanz. Das ganze Theater muß sich neu legitimieren. Auch die Erwartungen von außen sind groß, und die Zuschauer möchten offenbar diesen exemplarischen Konflikt miterleben. Noch nie in den letzten Jahrzehnten hatte die Volksbühne so viele Zuschauer wie in den letzten zwei Monaten.
Das, was jetzt hochkommt, ist kein rein theatralisches Problem mehr. Das ist genau das, was Castorf immer wollte: eine Relevanz, die über die Feuilletonspielwiese hinausgeht. Was jetzt aus diesem Theater wird, hängt mehr von der Entwicklung des Krieges ab als von den Konflikten im Theater. Schlingensief weiß, daß er sein Theater, wenn überhaupt, nur an diesem Haus machen kann, und das Haus ist selbstbewußt genug, um zu wissen, daß die Gefahr, ohne schlingensiefartige Aktivitäten in Routine zu versacken, größer ist als die, mit ihm auseinanderzubrechen. Castorf hat noch vor ein paar Wochen gesagt: Ich bin froh über das, was Schlingensief macht, weil ich es dann nicht machen muß. Interview: Petra Kohse
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen