: Handicap für körperbehinderte Kinder
■ Behörden zögern teure Hilfen für körperbehinderte SchülerInnen offenbar hinaus / Erboste Eltern ziehen jetzt vor Gericht: „Sonst müssen die Kinder das ausbaden“, befürchten sie
Körperbehinderte Kinder müssen leiden, weil Bildungs- und Sozialbehörde sich nicht einig sind. Das sagen Anwälte und Eltern betroffener Kinder, die jetzt vor Gericht ziehen wollen. Sie sind verärgert, weil sie den gesetzlichen Anspruch ihrer körperbehinderten Kinder auf Hilfe durch persönliche AssistentInnen nicht erfüllt sehen. „In verschiedenen Fällen müssen die behinderten Kinder in der Regelschule einfach alleine klarkommen“, sagt Rechtsanwalt Matthias Westerholt. Weder werde ihnen eine Begleitung auf dem Schulweg noch die nötige Unterstützung im Klassenzimmer zugestanden. Doch ohne Hilfe würden die körperbehinderten, durchschnittlich begabten Kinder in der Regelschule systematisch benachteiligt.
In seinem jüngsten Fall, den Westerholt jetzt vors Bremer Verwaltungsgericht bringen will, setzen sich Lehrer und nichtbehinderte MitschülerInnen zwar sehr für eine epilepsiekranke Sechstklässlerin ein. „Aber das darf nicht so bleiben. Das Mädchen hat einen Rechtsanspruch auf Assistenz.“ Mit der Unterstützung von LehrerInnen und MitschülerInnen zu rechnen, sei nicht fair. „Das fördert nicht die Akzeptanz körperbehinderter Kinder.“ Westerholt ist zugleich erster Vorsitzender des Vereins „Kinder haben Rechte“.
Aus Vereinssicht ist die Lage dieses Falls klar – und dabei nicht untypisch. Denn Gutachter haben bereits entschieden, daß die junge Epileptikerin Anspruch auf eine Assistenz hat. Zwar erhält die Elfjährige Medikamente, die gegen schwere Epilepsieanfälle wirken. Aber bis zu fünf mal am Tag hat sie „Absencen“; dann tritt das Kind geistig kurz weg und bekommt vom Unterricht nichts mehr mit. Solche Lücken muß eine „Assistenz“-BetreuerIn schließen. Doch seit Schuljahrsbeginn verzögern die potentiellen Kostenträger – Krankenkasse, Bildungs- und Sozialbehörde – nach Beobachtungen von Betroffenen die Kostenübernahme. Jetzt soll ein Eilantrag bei Gericht helfen.
Diesen Weg sind die Eltern des siebenjährigen André Detjen bereits im vergangenen Jahr gegangen. Sie hatten die Verzögerungstaktik der Behörden nicht mehr ausgehalten, nachdem ihr mehrfach schwerbehinderter Sohn schulpflichtig wurde, in der Sonderschule aber nicht ausreichend betreut werden konnte. „Er ist auf dem Stand eines Kleinkindes“, sagt seine Mutter. Der Junge kann sich kaum bewegen, nicht sitzen, nicht sprechen und ist fast blind. „Wenn was wäre, könnte er sich niemandem mitteilen.“ Katja Detjen und die anderen Eltern behielten ihre Kinder deshalb im Wochenrythmus zu Hause. „In der Schule wäre sonst alles zusammengebrochen“, sagt sie. Erst Ende des Jahres, nach einem Zeitungsbericht, „hat die Behörde in vier Stunden reagiert“. Seither hat André seine Hilfe.
In einem weiteren Verfahren entschieden die Richter allerdings, daß für Schul-Assistenzen behinderter Kinder nicht wie bislang angenommen die Sozial-, sondern die Bildungsbehörde zuständig ist. Es gehe schließlich um die Erfüllung des Schulgesetzes. „Da haben die ein ganz neues Faß aufgemacht“, stöhnt Anwalt Westerholt, der doch nur die Rechte seiner Mandanten durchfechten wollte. Auch Thomas Bretschneider vom Martinsclub ist skeptisch; selbst wenn der Zwei-Millionen-Marks-Topf für Assistenzen künftig vom Bildungsressort verwaltet werde, müsse dort „noch vieles erarbeitet werden.“
Manches sicher über die Gerichte. Denn Bretschneider kennt noch mehr Kinder, deren Anspruch auf Assistenzen hin- und hergeschoben wird. Seit acht Jahren regelt er beim Martinsclub die Vergabe von Assistenzen. In dieser Zeit wuchs die Zahl der HelferInnen von acht auf 50. „Mehr werden es kaum“, sagt er. „Heute verlassen ebensoviele Kinder das Assistenz-Programm, wie wir jährlich neu aufnehmen.“ Umso ärgerlicher sei die zeitliche Verzögerung zwischen den Anträgen und der Bewilligung der Kostenübernahme von rund 30.000 Mark pro Kind und Jahr. „Ich gehe davon aus, daß viele Eltern auch abgeschreckt werden“, sagt er. Manche Kinder, die mit Assistenz eine Chance hätten, würden dann möglicherweise als lernbehindert eingestuft. Der Sprecher der Bildungsbehörde betont unterdessen, daß die Zuständigkeit seiner Behörde den behinderten Kindern keine Nachteile bringen werde. ede
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