: Das doppelte Zuhause
Spielend deutsch und türkisch lernen: Die „Mottenkiste“ wurde vor zehn Jahren als erste interkulturelle Kita Hamburgs gegründet ■ Von Christoph Ruf
Auch die Eröffnung des Buffets wurde auf türkisch und deutsch verkündet. Da waren Kazim Karabugday und Helga Walz konsequent. Schließlich feierte mit der „Mottenkiste“ gestern nicht irgendein Kindergarten Jubiläum: Karabugday und Walz sind ErzieherInnen der interkulturellen Kindertagesstätte, die vor zehn Jahren als erste in ganz Hamburg von Eltern gegründet wurde.
Deren Impuls war 1987 zunächst ein ganz pragmatischer: „Die Wartezeit auf einen Kindergartenplatz betrug damals drei bis vier Jahre“, erinnert sich Cenk Kolcu, der noch heute im Elternrat ist. Deshalb gründete er mit anderen TürkInnen eine Elterninitiative, der sich später auch deutsche Eltern anschlossen. „Sie wollten ihre Kinder nicht von der türkischen Kultur im Viertel ausschließen“, so Kolcu. Zwei Jahre später öffnete die „Mottenkiste“ ihre Pforten.
Ihr Konzept, Kinder türkischer und deutscher Eltern gleichberechtigt in beiden Sprachen zu betreuen, brach 1989 mit dem in Deutschland jahrelang praktizierten „Integrationsmodell“. Man wolle weg von der traditionellen Kita „als monokulturelle und monolinguale Institution“, begründete die Kita damals in ihrer Broschüre. Interkulturelle Erziehung bedeute, von der anderen Kultur zu lernen, zugleich aber die „eigene Geschichte, ihre Besonderheiten, ihre Fragwürdigkeiten“ zu erkennen. Als Maxime gilt der Mottenkiste noch heute das Diktum des Rassismus-Forschers Stuart Hall: „Lernen, mit Unterschieden zu leben“.
In den drei Räumen in Ottensen spielen die Kinder Spiele aus beiden Kulturkreisen, die ErzieherInnen stammen aus beiden Ländern. Sprachunterricht im klassischen Sinne gibt es nicht – gelernt wird im gemeinsamen Dialog und Spiel. „Wir sind sehr erfolgreich“, behauptet der türkische Erzieher Karabugday: „Die Kinder, die schon zur Schule gehen, sind oft Klassenbeste.“ Vor allem aber, so Heike Walz „fühlen sie sich in beiden Kulturkreisen zuhause“.
Es gebe Vierjährige, die souverän im Gespräch von Deutsch zu Türkisch wechseln – zum Beispiel, weil die jeweils andere Sprache die besseren Schimpfwörter bietet. Deutsche Kinder animieren ihre Eltern zum Urlaub in der Türkei, türkische Familien, die vorher jedes Jahr nach Hause gefahren sind, reisen jetzt in andere Länder Europas. Auch Cordula Pekar, Mutter zweier Zehnjähriger, ist froh über die Entscheidung, die Zwillinge vor sieben Jahren in die „Mottenkiste“ gebracht zu haben: „Wenn die beiden Fußball spielen, wählen sie selbstverständlich zu gleichen Teilen ausländische und deutsche Kinder in ihre Mannschaft.“ Diese Selbstverständlichkeit habe sie selbst als Erwachsene erst lernen müssen.
So erfolgreich das Interkulti-Projekt ist, es muß Jahr für Jahr unter schwierigeren Umständen arbeiten. Heute hat die Mottenkiste 20 Personalwochenstunden weniger als 1995: „Diese Sparmaßnahmen der Behörde gehen an die Substanz“, so Walz. Und Pekar ergänzt: „Wenn das so weitergeht, müssen wir weiter an den Personalkosten sparen. Dabei ist gerade die individuelle Betreuung unsere große Stärke“.
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