: Die Eltern haben sich aus dem Staub gemacht
■ Wer verantwortet die Bildungskrise? Arendt suchte die Ursachen in der „progressive education“, ehe es sie gab. Grass entlastet die Lehrer: Schuld sind Bosse und Politiker
Zwei deutsche Reden über Bildung und Erziehung wurden an einem 13. Mai gehalten. Günter Grass verlangte am Himmelfahrtstag dieses Jahres vor einem Gesamtschulkongreß in Berlin „Erbarmen mit den Lehrern“.
Hannah Arendt kritisierte am 13. Mai 1958 Erwachsene, die sich um die Verantwortung drückten. Denn, so ihr Argument: „In der Erziehung selbst äußert sich die Verantwortung für die Welt.“ Günter Grass fragte, „Wer möchte da Lehrer sein, wenn die Politiker die Folgen ihres Unvermögens bis in die Schule hinein auslagern?“ Hannah Arendt kritisierte, „daß die Erwachsenen sich weigern, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen, in welche sie die Kinder hineingeboren haben“.
Grass' Rede entlastete die Pädagogen und schob die Verantwortung an Politiker und Bosse ab. Zwar ist sie dort schlecht aufgehoben. Aber so etwas gefällt einem Publikum, das aus lauter Angst davor, Täter werden zu können, sich allzu gern als Opfer sieht. Es übersieht allerdings, wie sehr sein Reinheitswunsch, seine Angst davor, sich einzumischen, und sein Verzicht, risikoreich zu handeln, „Täter“ und „Opfer“ so unheimlich verbindet. Also werden Feindbilder konstruiert. Jemand muß ja Schuld haben.
Günter Grass sichtet den „Verfassungsfeind“ in den „Chefetagen von Daimler und Siemens“. So rahmt man Weltbilder und bastelt sich die große Exkulpation: „Die Verfassungswirklichkeit sieht bis in die Chefetage der Firma Henkel & Hundt asozial aus“ – was kann man da noch machen, gar Lehrern empfehlen? Gar nichts. Nur eine Klagegemeinschaft eröffnen und sich am Jammern gegenseitig laben.
Grass spürte die Sackgasse wohl und versuchte in seiner Rede, die Kurve noch zu kriegen. Er setzte auf „lernende Lehrer“. Eine Aufforderung, die wie ein Appell von der Kanzel verhallt.
Arendt verzichtete im Mai 1958 ganz auf die schwache Abstraktion „die Gesellschaft“. Die Rede der 1975 verstorbenen Arendt über die „Krise der Erziehung“, gehalten in der Bremer Büttchergasse, vermied auch das alte Lied der Pädagogen, „nach uns nichts Nennenswertes“. Im Gegenteil. Ihr Thema waren die Erwachsenen. Sie hätten für die Welt, wie sie ist, den Kindern gegenüber einzustehen, auch und gerade dann, wenn sie mit ihr nicht einverstanden sind. Sie dürften den Kindern nicht die Probleme aufladen, die zu lösen sie selbst sich scheuten. Zehn Jahre vor dem antiautoritären Schub nahm Arendt die Schattenseite der „progressive education“ in den USA aufs Korn.
Sie kritisierte hellsichtig, was vielen heute erst langsam dämmert: die Erwachsenen haben vielleicht gar nicht so sehr versucht, die Kinder zu befreien, als sich selbst aus dem Staub zu machen. Sie enthalten ihren Kindern, die sie doch so idealisieren, etwas nicht Ersetzbares vor: sich selbst. „Es ist, als ob sie ihnen täglich sagten: In dieser Welt sind auch wir nicht sehr verläßlich zu Hause, und wie man sich in Ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muß, ist auch uns nicht sehr gut bekannt. Ihr müßt sehen, wie ihr durchkommt; wir waschen unsere Hände in Unschuld.“
Heute, 41 Jahre später, ist Arendts Befund evident: Erwachsene, die ihre Welt wie Untermieter bewohnen, die ihre Träume und Wünsche in Stoßseufzern oder im larmoyanten Konjunktiv artikulieren, die also eigentlich nichts wollen, diese Erwachsenen ziehen mutlose Kinder auf. Sie verweigern ihnen das wichtigste Lebensmittel: Resonanz. Uns fehlen nicht so sehr die Werte, schon gar nicht mangelt es an großen Appellen und scharfen Anklagen. Es fehlen erwachsen gewordene Erwachsene. „Leben entzündet sich nur an Leben“, sagte Jean Paul. Selten wurde das klarer ausgedrückt als in Arendts großer Rede von 1958.
Hannah Arendt: „Die Krise der Erziehung“. In: „Zwischen Vergangenheit und Zukunft“. Piper Verlag, 34,90 DM
Günter Grass: „Der lernende Lehrer“. In: „Für- und Widerworte“. Steidl Verlag (ab 10. Juni)
Günter Grass: „Wer möchte da Lehrer sein, wenn die Politiker die Folgen ihres Unvermögens bis in die Schule hineintragen?“
Hannah Arendt: „Die Erwachsenen verweigern die Verantwortung für die Welt, in die sie die Kinder geboren haben.“
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