piwik no script img

Alles Öko-Hypochonder?

Die Umweltmedizin steckt in den Kinderschuhen. Die Fachwelt streitet darüber, in welchem Maße Umweltgifte die Gesundheit beeinträchtigen    ■ Von Volker Wartmann

Unsere Umwelt ist krank und macht uns krank. Das ist für viele eine klare Sache. Durchschnittlich zwei von fünf Deutschen geben Umweltgiften die Schuld an ihren Gesundheitsproblemen: Holzschutzmittel, Pestizide und Schimmelpilze lauern in den eigenen vier Wänden, Luftschadstoffe und belastete Lebensmittel tun ein übriges. In den letzten fünf Jahrzehnten hat auf die Menschen eine stoffliche Vielfalt eingewirkt wie in der ganzen Geschichte der Menschheit zuvor nicht. Die Auswirkungen vieler Stoffe auf die Gesundheit sind jedoch unklar und noch nicht erforscht. Wie hoch die Zahl der Umweltkranken ist, läßt sich nicht sagen. Verläßliche Daten gibt es noch nicht.

„Bei vielen neuen Krankheiten ist es schwer, mit dem bekannten Instrumentarium die richtigen Diagnosen zu stellen“, sagt Kurt Müller, Vorsitzender des Deutschen Berufsverbandes der Umweltmediziner (DBU). Daher müßten neue Methoden entwickelt werden, um die äußerst komplexen Zusammenhänge erfassen zu können. „Mit linearen Erklärungsmodellen kommt man bei vielen Umweltkrankheiten nicht mehr weiter“, so Müller. „Ich warne davor, vermeintlich unerklärbare Beschwerden zu schnell mit psychosomatischen Ursachen zu erklären, wie es bisher oft praktiziert wird.“ Die Fähigkeit, mit Fremdstoffen im Körper umzugehen, sei individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Dieser Aspekt sei bisher zu oft vernachlässigt worden und müsse in Zukunft stärker berücksichtigt werden, so Müller.

Die (medizinische) Fachwelt ist sich über die Beurteilung der Auswirkungen des vielfältigen Stoffeinflusses auf die Gesundheit alles andere als einig. Eine Tendenz ist zumindest unübersehbar: Der zunehmenden Angst der Patienten vor umweltbedingten Krankheiten paßt sich der medizinische Markt flexibel an: Ärzte, Heilpraktiker, Ingenieure und Biologen bieten in einem wachsenden Dienstleistungsmarkt ihre Hilfe an.

Die stärkere Fokussierung auf umweltmedizinische Belange habe in den letzten Jahren zwei Gattungen von Umweltmedizinern heranwachsen lassen, sagt Müller. „Die eine Fraktion sieht Umweltfaktoren als mögliche Auslöser chronischer und auch Verursacher neuer, bislang nicht bekannter Krankheiten“, sagt Müller. Multiple Chemikalienüberempfindlichkeit und das Chronische Müdigkeitssyndrom sind Beispiele für solche Erkrankungen. Die andere Gruppe betreibe Umweltmedizin, um zu zeigen, daß diese gar nicht nötig sei, da es sich bei den Patienten um Öko-Hypochonder handele, so Müller.

„Die Bedeutung der Einflüsse von Umweltgiften auf den Menschen wurde lange Zeit nicht ausreichend beachtet“, sagt Arne Krüger, Vorsitzender des Fachverbandes Deutscher Heilpraktiker Landesverband Berlin/Brandenburg. „Jetzt ist es wie so oft: Wenn Gefahren lange Zeit verkannt worden sind, werden sie nach ihrer Entdeckung überbewertet und andere mögliche Faktoren in den Hintergrund gedrängt.“ Der Tendenz früherer Jahre, Umweltstoffe als Ursache für Krankheiten nicht zu sehen oder unterzubewerten, habe sich inzwischen umgekehrt. „Viele Menschen suchen die Ursache für ihre Beschwerden fast ausschließlich in Umwelteinflüssen und vergessen dabei, daß andere Gründe wie beispielsweise Streß am Arbeitsplatz oder Probleme in der Familie ebenso der Grund für ihre Krankheiten sein können“, sagt Krüger.

Seelische Einflüsse spielen seiner Meinung nach generell keine geringere Rolle als stoffliche Umwelteinflüsse. „Man kann nicht pauschal sagen, daß die Umwelteinflüsse auf die menschliche Gesundheit heute schlimmer sind als vor 30 Jahren“, sagt Krüger. Zwar hätten manche gefährliche Luftschadstoffe wie beispielsweise Autoabgase und die Menge verwendeter Chemikalien in den letzten Jahrzehnten zugenommen, so Krüger. Andere gesundheitsgefährdende Umwelteinflüsse seien durch Verbesserungen des Arbeitsschutzes und Umweltschutzmaßnahmen im Vergleich zu früher jedoch auch vermindert worden.

Viele Präventivmaßnahmen könne jeder einzelne ergreifen, so Krüger. „Zwar kann man in der Stadt das Einatmen belasteter Luft nicht vermeiden, aber durch gesunde Ernährung und eine bewußte Lebensführung viele Risiken beträchtlich mindern“, sagt Krüger. „Und wer pro Tag zwei Schachteln filterlose Zigaretten raucht, kann es sich sparen, zu viele Gedanken an das Formaldehyd in seiner Schreibtischspanplatte zu verschwenden. Der Zigarettenqualm belastet den Körper allein mit diesem Giftstoff in der Regel weit mehr als die Ausdünstungen seines Schreibtisches.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen