Rebellion gegen Arschlöcher

Bis weit in die sechziger Jahre hinein gab es für Frauen nur ein Lebensmodell: das der treusorgenden Mutter und Ehegattin. Seither sind mit der Verve und Hilfe vieler Feministinnen eine Reihe von Tabus gebrochen worden. Gesprochen werden darf nun auch über sexuellen Mißbrauch von Kindern und Gewalt in der Ehe. Teil XXI der Serie „50 Jahre neues Deutschland“  ■ von Silke Mertins

Der Tag war erschöpfend gewesen. Viele Stunden waren die sechs Frauen durchs Fichtelgebirge marschiert und gaben sich nun, am Abend, in einem kleinen Hotel bei Speis' und Trank der abendlichen Erholung hin. Ein paar Tische weiter bediente die Kellnerin zwei Fahrer eines Touristenbusses. Die Hand des einen griff nach dem Hinterteil der Bedienung. Nicht schön. „Du Arschloch!“ rief es vom Tisch der Frauenwandergruppe. Und noch einmal „Du Arschloch!“, als der ertappte Busfahrer darum bat, die Bemerkung möge wiederholt werden. Im anschließenden Handgemenge ging es nicht eben damenhaft zu. Fäuste wurden geballt, Ohrfeigen angedroht, Beschimpfungen ausgebracht. Auch erklomm Alice Schwarzer, heute Emma-Herausgeberin, erregt den Kneipentisch, einen Stuhl drohend über dem Kopf schwingend.

Nur ein Mitglied der Gruppe versagte im Kampf gegen das Patriarchat: Yaco, der rotbraune Setter der späteren Gründerin des Orlanda-Frauenverlags, Professorin Dagmar Schultz. Der Rüde suchte mit eingezogenem Schwanz das Weite; gefunden wurde er später ausgerechnet in einer Sofaecke des Nebenzimmers, in dem die beiden Chauvinisten inzwischen fernsahen. „Dagmar“, wurde sein Frauchen ermahnt, „mit dem Hund mußt du unbedingt was machen“.

Ob es die Erinnerung an diese hündische Feigheit war, die Emma Jahre später die Katze, seit Jahrtausenden eine wahre Freundin der Frauen und gehaßt von Diktatoren wie Alexander dem Großen bis hin zu Hitler, lobpreisen ließ, ist nicht überliefert. In jedem Fall aber ist dieser kleine Vorfall im Fichtelgebirge exemplarisch für die bewegte westdeutsche Frau Mitte der siebziger Jahre: Sie wollte aus der Rolle fallen.

Die bedrückende Enge der klassischen Kleinfamlie, deren Glückseligkeit in der Anschaffung einer neuen Couchgarnitur bestand und in der jeden Samstag Autowaschen und Beischlaf auf dem Programm standen, löste bei ihr nicht enden wollendes Unbehagen aus. Neben all den anderen ehrenwerten Anliegen wie dem Kampf gegen Männergewalt, dem Recht auf Abtreibung, Lohngleichheit und dergleichen, ging es vor allem um eine Rebellion gegen das noch immer gängige gesellschaftliche Bild der friedfertigen, verständnisvollen und duldsamen Frau an der Seite eines wie auch immer gearteten Mannes. Es ging darum, sich zu wehren –auch gewaltsam – gegen körperliche und verbale Zu- und Aufdringlichkeiten. Und zuvörderst um das Recht auf einen unabhängigen Lebensentwurf.

Von allen Veränderungen seit der Einführung des Gleichheitsgrundsatzes ins Grundgesetz ist diese vielleicht die bedeutendste: Während sich die weibliche Zuständigkeit für Heim und Herd in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik zementierte, führte der Aufruhr im Gefolge der Achtundsechziger-Bewegung nicht nur dazu, daß Jungen in der Schule Stricken und Mädchen Schrauben drehen lernten. Es brachte auch die klassische Aufgabenteilung erstmals ins Wanken.

Natürlich hatte es das auch in Kriegszeiten gegeben – daß Frauen traditionelle Männeraufgaben übernehmen mußten und wollten. Doch stets wurde das vermeintliche Ideal in die Nachkriegszeit hinübergerettet. Das Frauenprogramm der Nationalsozialisten etwa beinhaltete „nur einen einzigen Punkt, und dieser Punkt heißt Kind“, so Adolf Hitler 1934. Und das sah man und frau – allen Realitäten in den männerarmen vierziger und fünfziger Jahren zum Trotz – in der neu gegründeten Bundesrepublik nicht wesentlich anders. Selbst „drüben“, in der DDR, wo der Nebenwiderspruch Frau qua Staatsdoktrin abgeschafft, weibliche Berufstätigkeit von Staats wegen unterstützt und in Kindergartenliedern wie „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“ besungen wurde, änderte sich an den real existierenden Zuständigkeiten wenig.

Eine unverheiratete Frau, berufstätig, alleinlebend, womöglich gar kinderlos – das war nun mal hüben wie drüben nicht vorgesehen. Heute, fünfzig Jahre später, ist indes zumindest in der alten Bundesrepublik eine Gesellschaft gewachsen, die so viele nebeneinander existierende Lebensentwürfe hervorgebracht hat, daß in den urbanen Zentren, aber nicht nur da, unkonventionelle Frauen nicht einmal mehr leisestes Aufsehen erregen. Die Kleinfamilie ist nicht mehr der, sondern ein möglicher Lebensstil.

Beigetragen dazu hat allerdings nicht nur der viel zitierte Tomatenwurf der Studentin Sigrid Rüger beim SDS-Bundeskongreß 1968 in Frankfurt am Main, der die zweite Frauenbewegung eingeläutet haben soll. Sondern mindestens genauso die Pharmaindustrie.

Die Pille, die Frauen – mit welchen Nebenwirkungen auch immer – erstmals sexuelle Freiheit ohne ungewollte Folgen verhieß, revolutionierte die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Nun mußten nicht mehr zwangsläufig Männer, die frau nicht liebte oder nicht wollte, geheiratet werden, nur weil „etwas unterwegs“ war. Denn die Frauen hatten, anders als beim Kondom, die Verhütung nun selbst in der Hand.

Doch die Pille war Segen und Fluch gleichermaßen. Zwar ermöglichte sie der weiblichen, heterosexuellen Bevölkerung, auf Kinder, nicht aber auf Sex zu verzichten. Und aus einer Affäre mußte kein Verhängnis mehr werden. Doch andererseits konnten Frauen sich von nun an auch nicht mehr mit dem Hinweis auf drohende Schwangerschaft entziehen. Der Druck auf die Frauen, willig und allzeit bereit zu sein, stieg.

Die sexuellen Fertigkeiten der Männer wuchsen aber nicht in gleichem Maße. An der Rein-Raus-Fertig-Methode änderte sich wenig. Die Gesprächsprotokolle in „Der kleine Unterschied“ (1975) von Alice Schwarzer – die reißenden Absatz fanden – illustrieren, daß fast keine der befragten Frauen zufrieden, beziehungsweise befriedigt war.

Schon Sigmund Freud hatte den klitoralen Orgasmus als den unreifen, den vaginalen hingegen als den reifen bezeichnet. Warum, weiß keiner. „Es ist schwierig, im Licht unseres gegenwärtigen Erkenntnisstands über die Anatomie und Physiologie der sexuellen Reaktionen nachzuvollziehen, was mit ,vaginalem Orgasmus' gemeint sein kann“, wunderte sich schon 1953 der amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey.

Trotz des Aufwands, mit dem sich feministische Kreise nun der Klitoris im allgemeinen und besonderen zuwandten, blieben die gesellschaftlichen Folgen weitgehend aus. Auch Mitte der achtziger Jahre ergaben Befragungen, daß die überwiegende Mehrheit der Frauen wenig Lust auf Sex verspüren, weil ihre Ehemänner schlechte Liebhaber seien. Dennoch wurde inzwischen erwartet, daß frau nicht mehr stocksteifstumm alles über sich ergehen ließ, was mancherorts zu ausgeprägten Schauspielkünsten – man denke an die gefühlsechte Orgasmussimualtion in dem Film „Harry und Sally“ – führte.

Dafür aber schlich die gesellschaftliche Entwicklung in anderen Bereichen leidlich voran. 1977 wurde die Schuldfrage beim Scheidungsrecht abgeschafft und die Versorgung des Expartners neu geregelt. Das Abtreibungsrecht wurde nach dem spektakulären Stern-Outing „Ich habe abgetrieben“ neu verhandelt. Und überall entstanden Frauenhäuser, Frauenverlage, Frauenbuchläden, Frauenzentren, Frauenforschung, Frauennetzwerke, Frauenkneipen, Frauenromane, Frauenliebe. Das Zeitalter des Frauenbeauftragtenwesens, der Quote, der Gleichstellungsregelungen begann.

Trotz der Mühe, mit der die Frauenbewegten die Entwicklung beförderten, waren es dann aber die in Ansätzen geläuterten patriarchalen Bollwerke, die für einen großen Schub sorgten. Beispielsweise schreckte der Hollywoodstreifen „Angeklagt“ mit Jody Foster vor zehn Jahren die Öffentlichkeit in Sachen Vergewaltigung weit mehr auf als die jahrelange Arbeit der Frauenbewegung.

Kein Thema, von der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz über Vergewaltigung und Frauenhandel bis hin zu Mißbrauch von Kindern, das in diesen sensibilisierten Jahren nicht in der Öffentlichkeit ausführlich diskutiert wurde. Bis das Publikum so etwas wie Übersättigung zu empfinden begann.

Mit großem Unmut stellte die Generation Alice Schwarzers in den neunziger Jahren fest, daß die jungen Frauen zwar gerne die errungenen Siege in Anspruch nahmen, ansonsten aber mit dem Thema Feminismus nicht behelligt werden wollten. Darüber hinaus irritierten nicht nur die Migrantinnen, deren tatsächliche oder vermeintliche Unterdrückung selbst von der bravsten deutschen Hausfrau gern als Beleg der eigenen Emanzipation herangezogen wurde. Auch die Wiedervereinigung und damit ostdeutsche Frauen, die sich partout das „Ich bin Lehrer“ oder „Ich bin Kranführer“ nicht abgewöhnen wollten, verunsicherten.

Doch trotz des vielbeschworenen Backlash und des Scheiterns der Quote – siehe rot-grüne Bundesregierung – sind manche Erfolge dauerhafter Art. Zwar nehmen immer noch nur zwei Prozent der Väter Erziehungsurlaub in Anspruch. Doch andererseits wagt kein CDU-Spitzenpolitiker, kein Schröder und schon gar kein Grüner heute mehr, die weibliche Bevölkerung auszublenden und „liebe Wähler“ statt „liebe Wähler und Wählerinnen“ zu sagen. Und selbst die Konservativen sehen sich nunmehr genötigt, die – Pfuiteufelszeug – Quote zu diskutieren.

Von dem CDU-Familienminister Franz-Josef Wuermeling, der die Frau als „Herz der Familie“ sah und Berufstätigkeit von Müttern mißbilligte, bis zum Werbeslogan der CDU-Frauenunion „Lieber gleich berechtigt als später“ war es ein quälend weiter Weg. Daß sich heute auch die christdemokratischen Gralshüter der Kleinfamilie mit Frauenfragen herumschlagen müssen, ist nach fünfzig Jahren verfassungsrechtlich garantierter Gleichberechtigung vielleicht der größte Erfolg.

Silke Mertins, 34, vier Jahre taz-Landespolitikredakteurin in Hamburg bis zum Herbst 1998, arbeitet seit Februar im Tagesthemenressort der taz in Berlin