piwik no script img

Der imperiale Geist hat überlebt

■ Das lange vernachlässigte russische Militär wurde durch den handstreichartigen Einmarsch im Kosovo innenpolitisch gestärkt

„Ick bün all hier“, feixte der russische Igel nach der gelungenen Nacht-und-Nebel-Aktion, in der russische SFOR-Einheiten den Flughafen von Pritina besetzten und der Megamaschine Nato Sand in ihre Logistik streuten. Wenn Intelligenz bloßer Stärke ein Schnippchen schlägt, dann jubelt Rußland, seitdem es selbst zu den Schwächeren gehört. Alle Probleme schienen wie weggeblasen. Die Opposition beruhigt, das Militär stolz wie ein Pfau und ein Westen, der um Wohlverhalten bittet.

Aber: „Die Streitkräfte befinden sich in einem katastrophalen Zustand“, analysierte Premier Sergej Stepaschin mit sorgenvoller Miene. Armee und Rüstungsindustrie seien kaum noch in der Lage zu überleben. Keine neue Erkenntnis. Seit 1992 gehört der Schwanengesang der Militärs zum festen Repertoire jeder Haushaltssitzung. Finanzpolitiker ließen sich davon grundsätzlich nicht beeindrucken. Inzwischen verdrängen aber besorgte Patrioten die kaltherzigen Buchhalter. Ende März, als die Allianz Jugoslawien ins Visier nahm, agitierte Generalstabschef Anatoli Kwaschnin die Duma-Abgeordneten: statt der vorgesehenen 2,17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes benötige die Armee 3,5 Prozent, um nur notdürftig ihre Verteidigungsbereitschaft zu sichern. Die Duma versprach, das Haushaltsgesetz zu korrigieren. Aber selbst 3,5 Prozent des BIP, die etwa 140 Milliarden Rubel, fast einem Viertel des Staatshaushaltes 1999, entsprechen, würden die Armee nicht vor weiterem Verfall retten.

Die Finanznot erklärt nicht alles. Die politische Klasse hat sich stillschweigend auf einen patriotischen Kompromiß geeinigt: Es galt, alles zu vermeiden, was die Krise der Streitkräfte verschärfen könnte. Eine grundlegende Militärreform lehnte die Generalität kategorisch ab. Daher scheiterten auch Bemühungen, eine schlagkräftige Berufsarmee einzurichten. Der imperiale sowjetische Geist hat die Turbulenzen der ersten demokratischen Jahre unbeschadet überstanden, ist lediglich in einen russisch-patriotischen Drillich geschlüpft. Trotz der Niederlage in Tschetschenien und unzähliger Schwächen rettete die Armee Image und Selbstverständnis.

Trotzdem hat sie seit 1992 erhebliche Kürzungen verkraften müssen. 2,7 Millionen standen damals unter Waffen, davon allein 1,5 Millionen Wehrpflichtige. Das Londoner Institut für strategische Studien (IISS) schätzt die Mannstärke inzwischen auf höchstens 1,2 Millionen. Das Heer beispielsweise schrumpfte auf 420.000 Mann. Nach Angaben der russischen Zeitschrift Wlast sind heute nur noch drei Divisionen und zehn Brigaden ständig im vollem Umfang kampfbereit. 21 Divisionen müssen zum Teil mit halbem Personalbestand über die Runden kommen.

Der Personalabbau hat die Streitkräfte nicht von finanziellen Sorgen befreit. Im Vergleich zu den führenden Industrienationen gibt es in Rußland nach wie vor überproportional viele Soldaten. Auf 1.000 Russen kommen 8,2 Militärs – rechnet man noch die wesentlich besser versorgten Einheiten des Innenministeriums, Grenztruppen, Objektschützer, Päsidialgarde etc. hinzu, erhöht sich die Zahl sogar auf 13,5. In den USA sind es dagegen nur 5,2, in Deutschland 4,1. Dennoch klagte Verteidigungsminister Igor Sergejew, es herrsche akuter Mangel an Längerdienenden und Fachleuten. Allein in diesem Jahr können 19.000 freie Offiziersstellen nicht besetzt werden, und ein Drittel der Offiziere steigt inzwischen vorzeitig aus. Hauptgrund: Sobald Offiziere eine Wohnung aus dem Verteidigungsfonds erhalten, sehen sie ihr Etappenziel erreicht und weigern sich, den Einsatzort zu wechseln. Droht Versetzung, findet sich allemal ein disziplinarischer Anlaß, den Dienst zu quittieren.

Unterdessen fehlt es der Armee an elementaren Dingen. Treibstoffmangel gehört zum Alltag, ehemals hochwertiges Material verrottet. Auf dem Balkan wurde den Militärs bewußt, daß sie den Anschluß an moderne Kriegführung verloren haben. Auf der Sicherheitsratssitzung am 29. April wandte sich Boris Jelzin mit der Bitte um Aufklärung an die Generalität: „Warum haben sie keine Angst vor uns?“ Lasergesteuerten Waffen und graphitbestückten Bomben hat Moskau nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen. Die konventionellen Hochpräzisionswaffen eignen sich inzwischen sogar für einen Präventivschlag gegen Nukleardepots. Experten befürchten, Rußland könnte Tausende – Anfang der 90er Jahre ausgemusterte – taktische Kurzstrekkenraketen umrüsten. George Bush und Michail Gorbatschow zogen die Systeme damals ohne vertragliche Verpflichtung aus dem Verkehr. Mit nuklearen Sprengköpfen versehen, ließen sie sich in einem begrenzten Konflikt als Ersatz für Präzisionswaffen einsetzen. Kein nuklearer Megaschlag, meint der Militärbeobachter Pawel Felgenhauer, aber „Rußland könnte das Verständnis von Nuklear- als Massenvernichtungswaffen verändern“.

Rußland ist schwach. Dennoch sei an die Einsicht des preußischen Gesandten am St. Petersburger Hof, Fürst von Bismarck, erinnert: „Nie ist Rußland so schwach oder stark, wie es scheint“. Klaus-Helge Donath, Moskau

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen