: Die Wunde soll klaffen, damit die Geschichte bewußt wird
■ Genese des Holocaust: der Historiker Christian Gerlach und sein Buch „Krieg, Ernährung, Völkermord“
Der Holocaust bleibt die klaffende Wunde in der deutschen Geschichte. Das haben die 90er Jahre so eindringlich wie nachhaltig gezeigt. Die Diskussionen um Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker, die Walser-Bubis-Dabatte, die Wehrmachtausstellung: Wohl kein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg war so virulent in puncto Erinnerung. Fast möchte man von einer Wollust des Erinnerns sprechen.
Bei so viel Masse stellt sich die Frage nach Qualität. Das Sprichwort vom silbernen Reden und goldenen Schweigen hat auf dem Hintergrund der Naziverbrechen zu keiner Zeit Sinn gemacht. Aber: auch Reden kann eine Form der Verdrängung sein. Geschichtserinnerung und Geschichtsbewußtsein, darauf hat der Althistoriker Christian Meier hingewiesen, sind eben nicht dasselbe.
Ein Beitrag zum Geschichtsbewußtsein liefert Christian Gerlach mit seinem Buch Krieg, Ernährung, Völkermord. Anknüpfend an Goldhagen und die Wehrmachtausstellung hat er die verschiedenen Stufen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik untersucht. Sein Hauptaugenmerk richtete er dabei auf die Ereignisse vom Herbst 1941 bis zum Frühjahr 1943, da in diese Zeit die „Beschleunigung“ der Vernichtung der europäischen Juden fällt. Mehr als die Hälfte aller Opfer wurden in diesem Zeitraum ermordet. Gerlach verfolgt die These, daß die systematische Ermordung der Juden trotz ihrer Verankerung in der antisemitischen Ideologie der Nazis keineswegs zwingend für ihre Umsetzung während des Krieges gewesen ist. Der deutsche Angriff auf Rußland sollte zunächst dem Zweck dienen, „Rohstoffe herauszuholen, um die Ausgangsbasis für einen längeren Konflikt mit Großbritannien und – früher oder später – mit den USA zu erhalten oder sie von einem Gegenangriff abzuschrecken“. Die Vernichtungspolitik, die mit dem Rußlandfeldzug einsetzte, war nicht von vorneherein und ausschließlich ideologisch, sondern ebenso militärisch und materiell motiviert.
Mit der Darstellung der deutschen Rußland-Politik ab 1941, aber auch mit einer sehr detailreichen Rekonstruktion der sogenannten Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, in deren unmittelbaren Folge die Vernichtung der Juden in ganz Europa vorangetrieben wurde, verbindet er die Positionen der „Intentionalisten“ und „Funktionalisten“, also denen, die meinen, daß die „Entschlußbildung zum Mord an den Juden von Hitler ausging“, und denen, die meinen, „daß Hitler außer zustimmenden Äußerungen damit konkret nichts zu tun hatte“. Gerlachs Anliegen ist, die Frage nach der individuellen Verantwortung der Täter auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen zu stellen.
Manchmal droht ihm allerdings der eigene Fragehorizont vor lauter Einzelheiten aus dem Bick zu geraten. Seine Auseinandersetzung mit Christopher Browning darüber, ob Hitler schon im Herbst oder erst im Dezember 1941 den Entschluß zur kurzfristigen Ermordung aller europäischen Juden getroffen hat, zeugt zum Beispiel kaum von erkenntnisfördernder Argumentation. Aber solche Haarspaltereien, die sich oft im Umfeld falsch verstandener Wissenschaftlichkeit finden lassen, bleiben bei Gerlach die Ausnahme. Ansonsten gilt: Die Wunde soll klaffen, denn ein Sinn von Geschichte ist das Erinnern für die Zukunft.
Joachim Dicks
Christian Gerlach: „Krieg, Ernährung, Völkermord“, Hamburger Edition, 1998, 308 Seiten, 24 Mark.
Lesung und Diskussion: heute, 19.30 Uhr, Heine-Buchhandlung, Schlüterstr. 1
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