Kommentar: Gnade für Öcalan
■ Aus dem Urteil sind politische Konsequenzen zu ziehen
Am Ende kam es, wie es kommen mußte. Das türkische Staatssicherheitsgericht verurteilte den PKK-Chef Abdullah Öcalan zum Tode. Sicherlich, alles andere wäre eine Überraschung gewesen, doch eben daran war der Prozeß gegen den PKK-Chef reich. Erst Öcalans demütiger, fast verzweifelter Auftritt zu Verhandlungsbeginn, der vor allem seine Anwälte und Anhänger schockierte und brüskierte. Dann sein geschickter Rollensprung zum Staatsmann, der mit Enthüllungen über geheime Kontakte zwischen der PKK und diversen türkischen Regierungen etliche Leute in Ankara in Verlegenheit brachte. Und dann der fast schon verständnisvoll wirkende Vorsitzende Richter, der den Prozeß so leitete, daß ihm selbst eine Beobachterdelegation des Europäischen Parlaments eine faire Verhandlungsführung bescheinigte. Mit all dem hatte vor Prozeßbeginn niemand gerechnet.
Doch am Ende konnten auch die Richter nicht über ihren Schatten springen. Zu erdrückend sind die Beweise gegen Öcalan, zu eindeutig die Rechtslage der Türkischen Republik, und zu sehr haftet ihm in der Öffentlichkeit das Stigma des Terroristen an. Dennoch scheinen sich einige türkische Politiker im Laufe des Prozesses von der Meinung verabschiedet zu haben, daß nur ein toter Öcalan ein guter Öcalan ist. Äußerungen in den türkischen Medien deuten darauf hin, daß sie zumindest bereit sind, sein Vermittlungsangebot zu testen – nicht weil sie den PKK-Chef für besonders vertrauenswürdig halten, sondern weil sie wissen, daß sonst eine Katastrophe naht: der permanente Bürgerkrieg in allen Teilen der Türkei, inklusive Städten und Touristenzentren, geführt von einer führerlosen Organisation.
Es wäre eine politische Entscheidung, Öcalan den Strang zu ersparen. Zu fällen hat sie entweder das Parlament, das über die Exekution abstimmen muß, oder Staatspräsident Demirel, der einen Gnadenerlaß unterzeichnen kann. Ersteres ist angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament unwahrscheinlich, zweites hoffentlich noch ein bißchen offen.
Europa kann wenig tun. Auf Druck aus Brüssel wird man in Ankara nur reagieren, wenn dieser mit einem wirklich lukrativen Angebot verbunden ist – einer EU-Vollmitgliedschaft. Doch an die glaubt in der Türkei nach jahrelangen Absagen kaum noch jemand. Öcalan könnte das den Kopf kosten. Thomas Dreger
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