: Welches Gutachten hilft dem Richter?
ExpertInnen für sexuellen Missbrauch begrüßen das BGH-Urteil zu psychologischen Gutachten. Die neuen Maßstäbe machen den Nachweis „wissenschaftlicher“, aber auch schwieriger ■ Von Heide Oestreich
Berlin (taz) – Katharina Rutschky kann sich zufrieden zurücklehnen: „Ich hoffe, dass jetzt das Elend wenigstens einiger der unschuldig eingesperrten angeblichen ,Missbraucher‘ ein Ende hat.“ In Revisionsprozessen könnten jetzt einige der Fälle, in denen aufgrund zweifelhafter Gutachten Haftstrafen verhängt wurden, wieder aufgerollt werden. „Die Rechtsstaatlichkeit hat um zehn Prozent zugenommen“, glaubt die Protagonistin der Missbrauch-des-Missbrauchs-Debatte.
In einem Grundsatzurteil hat der Bundesgerichtshof Maßstäbe für psychologische Glaubwürdigkeitsgutachten aufgestellt (siehe Text unten). Überprüft werden muss, ob genügend Anhaltspunkte für den Realitätsgehalt der Aussage da sind, ob das Kind in der Lage wäre oder ein Motiv hätte, sich die Aussage auszudenken, ob die Aussage über einen längeren Zeitraum konstant blieb und ob fremde Einflüsse eine Rolle gespielt haben.
Dass aus dem Spiel mit anatomischen Puppen oder aus Zeichnungen gewonnene Vermutungen vor Gericht keine Beweiskraft haben, halten Experten für selbstverständlich. Die umstrittenen Puppen werden nur in der Therapie eingesetzt und auch da eher selten. „Wir haben welche, aber die stehen im Schrank“, sagt Eva-Maria Nicolai von der Mädchenberatung Wildwasser in Berlin. Dies vor allem deshalb, weil Wildwasser Berlin hauptsächlich mit älteren Kindern arbeitet, die sich sprachlich verständlich machen können. „An die Verdachtsabklärung bei kleinen Kindern traut sich mittlerweile kaum noch jemand heran“, sagt Nicolai, „das wird durch das Urteil weiter verstärkt.“
Sexueller Missbrauch ist oft schwer nachzuweisen. Liegt er länger zurück, gibt es keine medizinischen Indizien mehr. Ist ein Kind schwer traumatisiert, kann es keine klaren Aussagen mehr über die einzelnen Taten vorbringen. Darauf sind die Richter aber angewiesen.
Zudem gibt es immer wieder Fälle, in denen Kinder, etwa bei Scheidungsprozessen, von Elternteilen gegeneinander aufgehetzt werden und als Gipfel dann der Vorwurf des Missbrauchs herausgeholt wird. Übereifrige Staatsanwälte machen sich leicht zum Werkzeug einer sexualpolitischen Gesamtstimmungslage: der Empörung über eine mögliche sexuelle Gewalttat, die Persönlichkeiten dauerhaft zerstören kann. Mit psychologischen Gutachten versuchen sie, sich aus dem Dilemma zu retten.
Diese Gutachten sind nicht erst seit dem Mammutprozess um den angeblichen Massenmissbrauch in Worms ins Gerede gekommen. Bei diesem Prozess waren 25 Personen angeklagt worden – aufgrund der Aussagen von Kindern, deren Glaubwürdigkeit PsychologInnen bestätigt hatten. Aufgrund von Gegengutachten, die die Arbeitsweise der GutachterInnen noch einmal durchleuchteten, wurden sie schließlich freigesprochen. PsychologInnen standen danach unter Generalverdacht, nicht immer nach allen Regeln der Kunst zu arbeiten.
Wie die Aussage des Kindes zustande kam, ob sie eingeredet ist oder nicht, ob frisch fortgebildete PsychologInnen ihre neueste Theorie in das Klientenkind hineininterpretiert haben oder nicht – die Maßstäbe des BGH helfen nur bedingt weiter. „In vielen Fällen wird man mit diesen Kriterien nicht sehr weit kommen“, zweifelt etwa Gutachter Jörg Fegert, Kinderpsychiater in Rostock. „Schwere Fälle, in denen die Kinder zu einer konsistenten Aussage gar nicht mehr fähig sind, fallen dann unter Umständen aus der Strafprozessordnung heraus. Mit diesem Widerspruch müsste man dann leben.“
Einige Fachleute raten deshalb ohnehin von einem Prozess ab, wenn es keine eindeutigen Beweise gibt: „Wenn die Beweislage dürftig ist, ist der mutmaßliche Täter immer auf der Siegerstraße“, sagt der Psychotherapeut Jürgen Lemke von der Berliner Kinderschutzeinrichtung „Kind im Zentrum“. „Wenn die dann freigesprochen werden, und es hat wirklich ein Missbrauch stattgefunden, dann ist die erneute Traumatisierung des Opfers groß.“
Besonders kompliziert ist die Frage, ob eine Fremdsuggestion vorliegt: Hat ein Elternteil dem Kind etwas eingeredet, oder hat ein Therapeut bei der Abklärung des Verdachts die feine Linie zwischen „Mitteilungshilfe“ und Suggestion überschritten? Nach Ansicht von Eva-Maria Nicolai von Wildwasser kann das nur die kritische Auseinandersetzung zwischen den GutachterInnen des Gerichts und den TherapeutInnen, die mit dem Kind gearbeitet haben, ans Licht bringen. Eins hat der BGH aber auf jeden Fall klargestellt: Die Verantwortung für das Urteil trägt das Gericht: Kein Richter kann pauschal auf die „Sachkunde“ des Gutachters verweisen und sich damit aus der Affäre ziehen.
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