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Das Fernsehgericht talkt

■ Jetzt gibt's eine „völlig neue Form der Rechtsprechung“. Ab heute täglich bei Vox

Eigentlich ein ganz normaler Fernsehtag: Nur werden von heute an drei weitere Menschen wie all die anderen auf den Treppenstufen zwischen jener still feixenden Öffentlichkeit stehen, die man Studiopublikum nennt. Auch sie werden kleine Stichwortkärtchen in der Hand halten und die nunmehr zwölfte, dreizehnte und vierzehnte Daily-Talkshow im deutschen Fernsehen „moderieren“, wie man so sagt in der Branche.

Aber wir wollen nicht vorverurteilen: Um 13 Uhr macht eben RTL seinen Oliver Geißen zum „Ilona Christen“-Platzhalter, um 14 Uhr versucht sich der ehemalige Teleshoppingverkäufer Ricky Harris als Sat.1-Arabello – oder Adebisi. Und um 19.15 Uhr hat dann eine gewisse Radka Kaspar ihr Debüt auf Vox. Die 31-jährige war zuvor Ansagerin einer Karaoke-Show im tschechischen Fernsehen, spricht sechs Sprachen und hat, so steht's im Lebenslauf, beinahe mal Jura ...

Doch halt! Dieser unscheinbare Sender Vox ist sich für ein Bekenntnis zur ordinären Talkshow zu schade. Schon seine letzte Eigenproduktion „Quatsch dich reich“ (eine Talkshow, in der gewöhnliche Menschen so tun mussten, als wären sie gewöhnliche Menschen in einer Talkshow) verkaufte Vox als „Comedy-Talk“.

Und nun? Nun heißt es täglich „Klarer Fall – Entscheidung bei Radka“, was klingt wie „Nicole – Entscheidung am Nachmittag“ auf Pro 7; die Moderatorin hat ihre Stichwortkärtchen sortiert und ihre Redaktion sucht unter (02233) 969 41 58 noch Mitmacher zu Themen wie „Sie hassen Sozialschmarotzer?“ oder „Jemand erzählt Geschichten über Sie, die nicht mal stimmen!“ – aber eine Talkshow will „Klarer Fall“ trotzdem nicht sein.

„Am Ende fällt das Urteil – im Publikum“

Vox hat nämlich im Zuschauer kurzerhand den Bürger entdeckt, und präsentiert den Programmzugang als „Gerichtsshow“, die „Ihnen zu Ihrem guten moralischen Recht verhelfen“ möchte. Der Pressetext weiß sogar wie, nämlich „nach dem Muster eines amerikanischen Gerichtsprozesses: Zwei generische Parteien tragen ihre Positionen und Argumente vor und laden Zeugen und Experten. Am Ende fällen fünf Geschworene aus dem Publikum im Mehrheitsentscheid das Urteil.“ Und befragen wir stattdessen die zuständige Vox-Pressebetreuerin Gaby Kranz, dann ist diese „völlig neue Form der Rechtsprechung“ schlicht „eine Gerichtsshow, die nicht nüchtern ist“.

„Der Zuschauer sagt: So ging's mir auch schon“

Und überdies nicht neu: Selbstverständlich gibt es in Amerika populärjuristische TV-Shows wie „Judge Judy“ schon seit Jahren und debating classes an der High School – bzw. hierzulande mindestens den „Streit um Drei“ im ZDF (und ab 27. September die „Richterin Barbara Salesch“ auf Sat.1).

Aber die Vox-Frau weiß dennoch, wozu der televisuelle Rechtssystemimport gut sein soll: „Da kann der Zuschauer sagen: So eine Situation hab ich auch schon mal gehabt.“ Rechtsprechung hätten wir schließlich schon genug in diesem Land, wohingegen die Vox-Show „nicht vorverurteilen, nicht die Meinungsmacherei der Talkshows“ wolle, sondern „ein moralisches Urteil“. Weswegen natürlich auch der „gesunde Menschenverstand“ und „Volkes Stimme“ bemüht werden – grad so, als wäre mit derlei (aus Film, Funk und Fernsehen, Würstchen-Bude und Kita-Abend bekannter) unqualifizierter Meinungsmacherei irgend jemandem geholfen.

Erst jüngst wetterte daher Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer in der Woche und mit Recht, in Justizshows wie „Klarer Fall“ bekämen „die bekannten Kränkungen armseliger Menschen vor einer still feixenden Öffentlichkeit nur noch die Weihe einer 'Entscheidung‘ “. Ein Tadel, den Vox gelassen nimmt: Die Pressefrau jedenfalls begegnet solchen Anwürfen mit Spontanität und kicherte neurasthenisch: „Klarer Fall: Nein! – Klarer Fall: Nein!“

Und womöglich ist das sogar ihr gutes moralisches Recht. Christoph Schultheis

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