Der SPD-Urtyp: ein Dandy

Heute vor 135 Jahren, am 28. August 1864, wurde Ferdinand Lassalle bei einem Duell tödlich getroffen. Der Urvater der deutschen Sozialdemokratie hing einem verschwenderischen Lebensstil an, liebte die Frauen und den Champagner – und war womöglich deshalb bei den Proleten sehr beliebt. Eine Lebens- und Wirkungsgeschichte von Lothar Mikos

Als die ersten Sonnenstrahlen jenes Tages die Baumwipfel des Wäldchens von Carrouge bei Genf küssten, wurde der erste Präsident des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins (ADAV), Ferdinand Lassalle, im Duell mit dem wallachischen Junker Yanko von Racowitza tödlich getroffen. Drei Tage lang quälte sich Lassalle noch mit starken Schmerzen, bevor er in den Armen seiner langjährigen Weggefährtin Gräfin Sophie von Hatzfeld entschlief. Die deutsche Arbeiterbewegung hatte ihren Führer verloren, die Sozialdemokratie sozusagen in ihren Grundfesten erschüttert.

Die Kugel seines Gegners hatte Lassalle entmannt. Seine Feinde sprachen von Ironie des Schicksals, war der Arbeiterführer doch durch seine Liebschaften und Affären mit Bürgertöchtern, Aristokratinnen und einfachen Ladenmädchen Gegenstand blühender Klatschgeschichten. Lassalle, der Genussmensch mit der Neigung zu arrogantem Habitus, gab das Rollenvorbild ab für zahlreiche Sozialdemokraten, die immer wieder auf den Plan der Geschichte traten. Arbeiter wie Georg Leber hatten in der SPD nie eine echte Chance, führende Positionen einzunehmen. Ihnen fehlte die Souveränität des Handelns in der Öffentlichkeit. Die kleinbürgerliche Art des Helmut Schmidt kam da schon eher an, noch besser aber die bürgerlichen Attitüden der modernen Mittelschichtler vom Schlage Willy Brandts oder Björn Engholms.

Kultivierten leiblichen Genüssen nicht abgeneigt, legten sie eine Gelassenheit an den Tag, wie sie sonst nur öffentlichkeitsgeübten Aristokraten und Großbürgern zu eigen ist. Sie lebten den Arbeitern in ihrer Anhängerschaft den „Traum vom guten Leben“ vor, der schon immer eine der Grundlagen für die Käuflichkeit der Arbeiterklasse war. 1963, zum hundertsten Geburtstag der SPD, bekannte deren damaliger Parteichef Erich Ollenhauer, man habe den Auftrag ihres Gründers Ferdinand Lassalle „nie preisgegeben und niemals verleugnet“. Auch wenn dies mehr auf die sozialreformerischen Ziele der SPD bezogen war, trifft das auch auf seinen Lebenswandel zu.

Der „Dandy“, wie in Friedrich Engels wegen seines Lebensstils abfällig nannte, blieb von all seinen Nachfolgern an der Spitze der Sozialdemokratie unerreicht. Allein sein Auftreten setzte Maßstäbe. Immer in bestem Zwirn, auch wenn die Rechnung für den Schneider noch nicht bezahlt war, bewegte sich Lassalle eitel und selbstverliebt durch die Berliner Salonkreise in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei versuchte er vor allem die Damen der Gesellschaft mit seinen endlosen geistvollen Monologen für sich einzunehmen. Was ihm bei prominenten Frauen wie Hedwig Dohm und Lina Duncker ebenso gelang wie bei Marie, der Verkäuferin aus dem Modehaus Gerson.

Lassalles Lebensstil rief in der Arbeiterbewegung immer wieder nicht nur Unverständnis, sondern auch Widerspruch hervor. Karl Marx hielt sich zunächst bedeckter, zeigte jedoch 1861 bei einem Besuch in der Berliner Wohnung Lassalles seinen Unmut. Vor allem war Marx, der in London mit seiner Frau Jenny in Armut lebte, vom großbürgerlichen Lebensstil Lassalles abgestoßen. Den konnte der sich leisten, weil er an den Geschäften seines Vaters beteiligt war, mit Aktien spekulierte und eine Leibrente von der Gräfin Hatzfeld erhielt, die er als Entlohnung für die erfolgreich durchkämpften Prozesse um ihre Scheidungen erhalten hatte. Die großzügige Wohnung, in der Marx berherbergt wurde, unterschied sich deutlich von den unbeheizten Mietskasernen, in denen ein Viertel der Berliner Bevölkerung damals lebte.

In einem Brief an die Gräfin Hatzfeld vom Januar 1859 hatte Lassalle die Wohnung beschrieben: „Ich habe vor einigen Tagen eine neue Wohnung vom 1. April ab gemietet für – fünfhundert Reichstaler! Aber welche Pracht. Bellevuestraße. Haut parterre. Vier große Salons, die ineinander gehen, in einer Suite! Erst ein immenser blauer Salon, Bosserie, vergoldete Plafonds usw., dann Speisesaal, wo ich dreißig Personen bequem setzen kann, und prachtvoll dekoriert. Dann großes Bibliothekzimmer, dann kleineres Arbeitszimmer, dessen Glasfenster auf ein Treibhaus stoßen, so dass ich stets die Palmen vor mir habe. Gebe ich ein Fest und öffne die vier Türen, sieht man vom Salon bis ins Treibhaus, das ich, wenn es mir auch nicht gehört, doch benutzen kann. Seitwärts Schlafzimmer. Im Souterrain Küche, Keller, Dienerwohnung. Ich kann, wenn ich will, hundert Personen bei mir sehen.“ Die Gräfin möge ihn nicht für verrückt halten, wenn er so eine große Wohnung nehme. „Ich denke nur, dass ich nur einmal lebe und daher mir nichts abgehen lassen will“, schrieb er weiter.

Dieses Motto hatte bis dahin bereits sein Leben geleitet. Lassalle war ein Getriebener, davon besessen, alles möglichst schnell zu erreichen, und selbst wenn er viel zu arbeiten hatte, keine Vergnügung auszulassen. Nach geselligen Runden in den Salons seiner Freunde wie dem Verleger Franz Duncker und seiner Frau Lina oder dem Musiker Hans von Bülow und seiner Frau Cosima (spätere Wagner), nach gesellschaftlichen Anlässen wie dem Juristenball, nach lauschigen Abenden im Biergarten der Witwe Heisler in der Potsdamer Straße, deren hübsche Töchter er zu schätzen wusste, brachte er noch genügend Disziplin auf, um sich bis morgens an den Schreibtisch zu setzen. Das tat er auch nach den Haschischabenden mit Freunden und den spiritistischen Experimenten, mit denen Lassalle vor allem die staunende Damenwelt von seinen magnetischen Kräften zu beeindrucken suchte.

Entsprechend drastische Berichte über die heutigen Vertreter der Sozialdemokratie sind nicht überliefert, auch wenn Oskar Lafontaine in der Vergangenheit bereits mit einer etwas anderen Rotlichtaffäre von sich reden machte. Von Willy Brandt wissen wir immerhin, dass er mit Lassalle die Vorliebe für Frauen teilte, jedoch Rotwein dem von Lassalle bevorzugten Champagner vorzog. Nachdem Lassalle als erster Präsident des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins, einer erfolgreichen Agitationstour durchs Rheinland und nicht ganz so erfolgreichen Verhandlungen mit Otto von Bismarck über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts auf der Höhe seines politischen Erfolges war, scheiterte er – aber nicht an Karl Marx und Friedrich Engels, an revolutionären Gegenströmungen in der Arbeiterschaft.

Vielmehr an einer Liebesgeschichte. Lassalle wollte immer schnell zum Ziel. Hindernisse auf seinem Weg waren ihm zuwider. Das galt für die Politik wie für die Liebe. Während er öffentlich mit seiner Redegewandtheit und seinem Geist brillierte, verfiel er privat häufig in Depressionen, die er mit Genuss zu bekämpfen suchte. Grund für die Eile war auch die Syphilis, die er sich als Zweiundzwanzigjähriger zugezogen hatte. Die Krankheit galt damals als unheilbar.

Je mehr sich Lassalle Gesundheitszustand verschlechterte, umso häufiger dachte er daran zu heiraten. Seine Anträge wurden nicht erhört, wohl auch, weil er den angebeteten Frauen immer eine Ehe zu dritt inklusive seiner langjährigen engen Freundin und Vertrauten Gräfin Hatzfeld schmackhaft zu machen suchte. Im Sommer 1864, als er zur Molkekur in der Schweiz weilte, traf er eine alte Bekannte aus Berlin wieder, die Diplomatentochter Helene von Dönniges. Als sie ihn, den Widerstand ihrer Eltern fürchtend, bat, sie doch zu entführen und zu heiraten, schickte Lassalle die junge Dame heim. Ein folgenschwerer Fehler. Die Eltern verweigerten den Kontakt, was Lassalle als schwere Demütigung empfand. Ihm blieb nur eine letzte Handlung, um seine Ehre wieder herzustellen: das Duell.

Sechs Jahre zuvor hatte er in einem Brief an Karl Marx das Duell noch als „unsinniges Petrefakt einer überwundenen Kulturstufe“ bezeichnet. Nun verlor er, der Arbeiterführer, durch dieses Ehrenritual sein Leben. So widersprüchlich wie sein Tod, der zu zahlreichen Spekulationen über einen verkappten Selbstmord Anlass gab, denn Lassalle galt als guter Pistolenschütze, so widersprüchlich war auch sein Leben. Sein eigener Lebenswandel stand scheinbar immer im Widerspruch zu den sozialistischen und demokratischen Prinzipien, die er zur Befreiung der Arbeiter und zur Einführung des Wahlrechts predigte.

Der „Dandy“ Lassalle hat aber nicht nur bis heute nachhaltig das politische Gedankengut der Sozialdemokratie geprägt, er führte auch einen Lebensstil vor, der zahlreiche Nachahmer fand. Lassalle lieferte das Vorbild für die lust- und genussbetonten Sozialdemokraten. Deren Schicksal – das hat Lassalle eben vor 135 Jahren vorgemacht – das Scheitern ist, ob sie nun Brandt, Engholm oder vielleicht Schröder heißen. Sie treten ab, auf halbem Weg, ohne ihr Werk vollendet zu haben, auch wenn sie danach zu mythischen Figuren der Sozialdemokratie werden.

Heute wäre Lassalle sicher ein hedonistischer Vertreter der Neuen Mitte, die derzeit von der Sozialdemokratie nach Kanzlers Art so vehement umworben wird. Der Widerspruch zwischen den Idealen der Arbeiterbewegung und einem Leben, das sich um die Bedingungen des Arbeiterlebens nicht schert, ist wohl ein Vermächtnis, das die Sozialdemokratie seit ihren Anfängen mit Lassalle als Päckchen zu tragen hat. Die Sozialdemokratie bleibt aufgrund dieses ihres Grundwiderspruchs in einer doppelten romantischen Illusion verfangen: der vom „guten Leben“ des Bürgertums und der vom solidarischen, proletarischen Leben.

Lothar Mikos, 44, hatte einen sozialdemokratischen Großvater, der ihm die Werte traditioneller Arbeiterkultur beibrachte. Inzwischen genießt er die Freuden des Berliner Lebens und arbeitet als Professor für Medienwissenschaft an der Kunsthochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg