Ess O Ess – Ess Pee Dee

Politischer Streit in der SPD hat Tradition. Immer ging es um Anpassung an gesellschaftliche Realitäten. Das war schon vor 40 Jahren in Godesberg so, und das ist auch jetzt der Kern des Zanks. Ein Essay von Christian Semler Ende der fünfziger Jahre war es vor allem die desaströse Wirklichkeit der realsozialistischen DDR, die der SPD den Abschied von antikapitalistischen Visionen leicht gemacht hat. Zudem hatte sich die Wirklichkeit verändert. Der Industriearbeiter gehörte schon damals zu einer aussterbendn Gattung, der auf seine proletarischen Wurzeln keineswegs stolze Angestellte war auf dem Vormarsch. Was Kanzler und Parteichef Gerhard Schröder allerdings vorschlägt und in der Praxis auch deutlich werden lässt, wird die sozialdemokratische Mitgliedschaft nicht widerstandslos hinnehmen: den langsamen Abschied von Werten wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität

Der Dirigent weilt im Urlaub, die Orchestermusiker fallen mit ihren Instrumenten übereinander her. Aber in diesem speziellen Kurkonzert, das die SPD in diesem Sommer für uns veranstaltete, fällt ein basso continuo auf. Aus dem Orchesterboden brummt es : Wir brauchen ein neues Programm!

Was für ein seltsamer, unzeitgemäßer Misston! Haben wir längst begriffen, dass Programme, sozialdemokratische zumal, in Zeiten der Opposition angefertigt werden, wo unbelastet von Entscheidungszwängen der Blick sich der Zukunft zuwenden kann, der lichten, weil sozial und demokratisch gestalteten? So war es im Kaiserreich, so während der Weimarer Republik, so in der Bundesrepublik des Patriarchen Konrad Adenauer im November 1959, als sich in Godesberg die SPD mit neuen Grundlagen versorgte. Und so geschah es schließlich auch in Berlin, wo kurz vor der Wende 1989 ein ökologisch-soziales Programm beschlossen wurde, dessen Autoren und Inhalt heute niemand mehr kennt.

Godesberg aber gilt heute noch als Fanal, als gelungener Lernprozess, Ausdruck der „Plastizität“, mit der sich eine Partei einer veränderten Wirklichkeit anpassen kann. So undeutlich heute die Fronten einer programmatischen Auseinandersetzung auch sind, die Schubladen zur Einsortierung der Protagonisten sind weit geöffnet. Es geht angeblich wie damals in Godesberg um den Kampf der Traditionalisten mit den Modernisierern, erstere vom politischen Untoten Oskar Lafontaine, letztere vom Parteivorsitzenden persönlich angeführt.

Aber der Unterschied zwischen der jetzt beginnenden Programmdebatte und der vom Ende der fünfziger Jahre ist mit Händen zu greifen. Damals wollte nicht nur die Führung, sondern die überwältigende Mehrheit der Mitgliedschaft einen Befreiungsschlag. Sie wollte das Ghetto der Dreißigprozent-Arbeiterpartei verlassen, neue Wählerschichten umarmen, endlich ankommen in den westdeutschen Nachkriegsverhältnisen. Heute aber will eine Führungsgruppe öffentlichkeitswirksam, quasi aus dem Handgelenk, zwei in Godesberg fixierte Grundwerte der Sozialdemokratie, Gerechtigkeit und Solidarität, in Richtung Verantwortlichkeit für das je eigene Wohl verschieben.

Dieses Manöver hat die größten Erfolgschancen, wenn die Parteimitglieder einem maximalen Realitätsdruck ausgesetzt werden. Also zu Zeiten einer sozialdemokratischen Regierung. Der Ruf nach einem neuen Programm ist die Antwort der verunsicherten Aktivisten. Schröder wäre gern scheibchenweise vorgegangen, mit der normativen Kraft des Faktischen im Rücken. Jetzt hat er die Programmdebatte am Hals. Aber bis das Ei ausgebrütet ist, hat die SPD sowieso wieder die Regierungsbank geräumt.

Damals, vor bald vierzig Jahren, im November 1959, verabschiedete sich die Partei in Bad Godesberg vom altehrwürdig-marxistischen Heidelberger Programm des Jahres 1925. Das war ein in fast allgemeiner Übereinstimmung vollzogener dicker Schlussstrich. Beendet wurde ein eigenartiger, schizophrener Zustand, der Gegensatz zwischen der antikapitalistischen Zukunftsvision des Programms und dem praktischen Reformismus auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft. Zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz war die SPD in der Lage gewesen, diese Kluft zu schließen.

Für die gesellschaftlich ausgegrenzte Arbeiterschaft im Kaiserreich war der Sozialismus die Gegenwelt im Reich der Hoffnung. Später nannte man diese Haltung „revolutionären Attentismus“. Bis zur NS-Machtübernahme verdünnte sich diese Hoffnung, um im Kampf gegen das Naziregime noch einmal aufzuleben als Anwort auf die Symbiose von Großkapital und Nazismus. Aber in dem Maße, in dem die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft sich, getragen von einer scheinbar endlos dauernden Konjunktur, festigte, in dem die Arbeitslosigkeit verschwand, in dem unter Mitwirkung der SPD die Sozialgesetzgebung alte Forderungen der Arbeiterbewegung einlöste, in diesem Maße wurde der Zwiespalt zwischen sozialistischem Programm und sozialreformerischer Praxis immer schwerer erträglich.

Und dies umso mehr, als der Realsozialismus in der DDR ein so abschreckendes Bild bot, dass der sozialdemokratische Einwand, man selbst werde demokratisch und unter Einbeziehung eines privaten Unternehmertums planen, an Überzeugungskraft verlor. Der Markt, nach dem Zweiten Weltkrieg bei allen Sozialisten noch Inbegriff gesellschaftlicher Anarchie, wurde zum Leitbild „freiheitlichen“ Wirtschaftens. Er musste nur kontrolliert, ihm sollten soziale „Rahmenbedingungen“ vorgegeben werden.

Dass die Hoffnung auf das „ganz Andere“ des Kapitalismus so umstandslos begraben werden konnte, lag auch daran, dass die Jahre 1958/59 zu Bruchpunkten der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik wurden. Die SPD hatte stets gegen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gestritten. Sie tat dies nicht im Gefolge eines prinzipiellen Pazifismus, sondern weil sie die Chance für die deutsche Einheit schwinden sah, wenn die beiden deutschen Staaten mit ihrem vollen Militärpotential in die antagonistischen Militärblöcke integriert würden.

Die SPD trat für ein kollektives Sicherheitssystem in Europa ein und erhoffte sich die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit im Gegenzug zur deutschen Paktfreiheit, zur Rüstungskontrolle und zu einer militärisch verdünnten Zone in Mitteleuropa, wie sie der polnische Außenminister Adam Rapacki vorgeschlagen hatte.

Bei einer Reihe von Sozialdemokraten, vor allem bei Herbert Wehner, verband sich diese Hoffnung auf eine deutsche Vertragslösung mit der Idee einer neu zu begründenden, gesamtdeutschen Arbeiterbewegung, die auf Grund demokratischen Mehrheitsentscheids den Weg zum demokratischen Sozialismus einschlagen werde. Dies war die unerklärte Pointe des maßgeblich von ihm beeinflussten Deutschlandplans der SPD.

Dieser Plan wurde zuschanden, als die Sowjetunion die Berlinkrise vom Zaun brach und sich herausstellte, dass die Westmächte dem sozialdemokratischen Deutschlandprojekt prinzipiell ablehnend gegenüberstanden. Willy Brandt, gefeierter Bürgermeister von Westberlin, Shooting Star der SPD und an programmatischen Fragen damals eigentlich uninteressiert, trat für einen engen Zusammenschluss der Bundesrepublik mit den Westmächten und gegen jede Koketterie mit sozialistischen Ideen ein, die dieses Bündnis hätten gefährden können. Der Deutschlandplan wurde begraben, die SPD bekannte sich zur Nato und zur allgemeinen Wehrpflicht. Mit diesem Entscheid aber waren die Würfel auch in programmatischer Hinsicht gefallen.

Der Wunsch so vieler Sozialdemokraten, endlich Normalbürger der Bundesrepublik zu werden, den Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis abzuschütteln, zeigte sich weniger in schroffen Angriffen auf eine überholte Theorie als vielmehr im Atmosphärischen. Man war das „Du“ der Arbeiterbewegung leid, die roten Fahnen, die beamteten Funktionäre, die farblosen Gestalten wie Erich Ollenhauer, die, aus der Londoner Emigration zurückgekommen, das öffentliche Bild der SPD prägten. Es fehlte nicht an Analysen, die die traditionelle Arbeiterschaft, Folge der zweiten industriellen Revolution, auf dem Rückzug und die neuen Mittelschichten im Vormarsch sahen.

Interessanterweise fanden Analysen dieser Art keinen Eingang in das Godesberger Programm; sie wurden vielmehr stillschweigend vorausgesetzt. Dies hatte zur Konsequenz, dass Übereinstimmungen wie divergierende Interessen der verschiedenen Schichten (und deren Ausgleich) ausgeblendet blieben. Irgendwie schien sich alles auf die nivellierte Mittelstandsgesellschaft zuzubewegen. Dieses Schweigen, dieser blinde Fleck bedeutete, dass der Übergang von der Klassenpartei zur linken Volkspartei, das politische Kernstück von Godesberg, argumentativ nicht untermauert wurde. Scharfsinnige Kritiker des Entwurfs wie der lebenslange linke Nonkonformist und Soziologe Theo Pirker stellten das Fehlen jeder gesellschaftlichen Analyse ins Zentrum ihrer Kritik. Dabei war das Konzept der „Volkspartei“ schon vor 1933 von einer Reihe junger Rebellen unter der Führung Carlo Mierendorffs mit der Entwicklung der Klassenverhältnisse unter dem Kapitalismus begründet worden.

Wo im Godesberger Programm die Widersprüche in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auftauchen, erscheinen sie überhöht und ins allgemein Menschliche gewendet. So erscheint die alte Marxsche Widerspruchsdialektik vom zunehmend gesellschaftlichen Charakter der Produktion und ihrer privaten Aneignung in der lyrischen, von dem Journalisten Fritz Sänger verfassten Präambel als Furcht vor den entfesselten Produktivkräften und Hoffnung auf ihre humane Nutzung.

An die Stelle der Zeitdiagnose trat die Beschwörung von Grundwerten und Grundforderungen. Der ethische Sozialismus, in der Weimarer Republik eine einflussreiche Minderheitenströmung in der SPD, trat jetzt seinen Siegeszug an. Von der Höhe der Grundwerte aus lassen sich trefflich Forderungen ganz unterschiedlichen Abstraktionsgrades und Gewichts ableiten.

Bei den praktischen Forderungen war das Bekenntnis zu Markt und Privateigentum konkret, die Maßnahmen aber, mit denen die negativen Folgen des Marktes für die Lohnabhängigen eingedämmt werden sollten, also erweiterte Mitbestimmung, Investitionskontrolle, volkswirtschaftliche Rahmenplanung. blieben vollständig abstrakt.

Diese Forderungen nach „Wirtschaftsdemokratie“ waren ein Widerhall der Programmatik, mit der sich in der Weimarer Republik Gewerkschaftstheoretiker wie Fritz Naphtali und Fritz Tarnow beschäftigt hatten. Für sie war Wirtschaftsdemokratie das fehlende Scharnier zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Scheinbar organisch passten die Verfasser des Godesberger Programms sie jetzt in ein Konzept der umfassenden Demokratisierung ein. Die Demokratie wurde zum universellen Lebensprinzip und der Sozialismus „erfüllte sich“ in ihr.

Aber was genau hieß „gesellschaftliche Demokratisierung“? Wie verhielt sie sich zu den staatlichen Institutionen? Und wie weit sollte sie reichen? Als Brandt zehn Jahre später sein „Mehr Demokratie wagen“ proklamierte, nahm er die Programmatik von Godesberg auf – und scheiterte an ihrer absichtsvollen Unbestimmtheit.

Liest man sich fest in den Protokollen des Godesberger Parteitags, so fällt die zahlenmäßige, aber auch die argumentative Schwäche der linken Gegner des Programmentwurfs ins Auge. Von den Bezirken lehnten nur Hessen-Süd und Bremen den Entwurf ab, unterstützt von Einzelkämpfern. Sie monierten die Tilgung von Karl Marx aus der Reihe der SPD-Gründerväter, was Herbert Wehner mit einer geschickten Attacke auf seine Lebenserfahrungen als KPD-Funktionär („Glaubt einem Gebrannten“) konterte, beklagten den Verlust der sozialistischen Perspektive, die für sie notwendig mit der Entmachtung des Großkapitals verbunden blieb. Aber ihre Argumente konnten nicht greifen, denn ihre Vorstellung vom Sozialismus blieb ortlos. In einem vereinten Deutschland war er nicht mehr anzusiedeln und für die Vorstellung einer europäischen sozialistischen Perspektive fehlte ihnen jegliche Fantasie.

Der gesellschaftspolitische Teil des Godesberger Programms war also nicht Resultat einer gründlichen Diskussion auf der Höhe der Zeit, sondern verdankte sich mehr dem Unmut über althergebrachte Formeln. Analytisch schwach und voller Formelkompromisse musste des Programm zehn Jahre später zum Angriffsobjekt der Linken werden, die sich im Gefolge der außerparlamentarischen Opposition auf die Suche nach einer antikapitalistischen Strategie und auf den steinigen „Dritten Weg“ begab. Was die damaligen Jusos (unter ihnen der heutige Kanzler) zustande brachten, war allerdings kaum realitätstüchtiger, kaum den wirklichen Problemen des Kapitalismus angemessener als das Programm der verschiedenen kommunistischen Parteien, Gruppen und Bünde. Peter Glotz, dem bekennenden Reformisten, fiel es in den Siebzigern nicht schwer, die Grundlinien von Godesberg gegenüber den linken Wiedergängern zu verteidigen – bis der große Paradigmenwechsel in Form der Ökobewegung kam und alles verschlang.

Godesberg stieß das Tor zur Wirklichkeit auf, es brachte Wort und Tat des reformerischen Sozialismus in Übereinstimmung. Das Programm lehrte zu sehen, weil es die bestehende Gesellschaft zur Grundlage aller Reformen nahm. Es entwickelte gesundes Misstrauen gegenüber der Macht des großen Kapitals, blieb aber impotent in seinen Vorschlägen zu dessen Kontrolle. Die Godesberger vertrauten ziemlich blindlings der Dynamik kapitalistischen Wachstums. Aber immerhin gingen sie von der Vorstellung aus, politisches Handeln könne souverän sein gegenüber den vorgeblichen Zwängen der Ökonomie. Insofern eröffneten sie den Raum für politisches Handeln. Und darauf kommt es an. Auch heute.

Christian Semler, 60, taz-Mitarbeiter seit 1989, war von 1957 bis 1958 Mitglied der SPD und des SDS, später nur noch des SDS, noch später der maoistischen KPD.