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Brot und Besichtigungen

■  Ein Dokumentarfilm zeigt einen KZ-Überlebenden, der nun durchs Lager führt

1971 begleitete der Dokumentarfilmer Hans-Dieter Grabe einen Mann auf seiner Reise von Oslo nach München. Mendel Szajnfeld musste sich einem ärztlichen Gutachter vorstellen, um die Erhöhung der kleinen Entschädigungsrente zu beantragen, die er als dauerhaft geschädigter KZ-Insasse bezog. Das ZDF meinte 1972 noch, Grabes Film über diese Reise nicht ausstrahlen zu können, weil er den deutschen Gebührenzahlern nicht zuzumuten wäre.

Grabe selbst glaubte damals, er würde Mendel Szajnfeld nie wiedersehen. Dem zerbrechlichen Mann ging es sehr schlecht, er litt unter Herz- und Nierenschäden, schweren Depressionen und Gleichgewichtsstörungen. Doch „Mendel lebt“. 1998 traf Grabe einen anderen Szajnfeld in Oslo. Mendel steht in seiner kleinen Küche und schneidet Brot, sehr bedächtig und mit der Hand. Der Vorgang dauert lange, und ausgiebig verhandelt Mendel Szajnfeld auch die Brotsorte mit dem Dokumentaristen. Im KZ hat Szajnfeld aus Hunger versucht, Gras zu essen. 1971 weinte er über den großen Hunger. Jetzt findet er „recht herrlich, dass man essen kann, so viel man Lust hat“.

Grabe ist einer der hervorragendsten Dokumentarfilmer dieses Landes. Er versteht Mendels Genuss nicht nur, er lässt ihm auch die nötige Zeit. Anfangs begreift man diese Langsamkeit nicht, später kommt man um so nachhaltiger dahinter. Auf dieses Begreifen läuft „Mendel lebt“ zu – es wird zum Schock, zum existenziellen Moment für den Zuschauer. Mendel Szajnfeld hat einen Teil von sich in den letzten dreißig Jahren retten können. Er schrieb ein Buch über seine KZ-Zeit, hält Vorträge über den Holocaust und begleitet norwegische Schüler auf Klassenfahrten nach Auschwitz, Birkenau und Sachsenhausen. Wie erträgt Szajnfeld das? Er sagt nichts dazu, außer, dass er nicht anders könne. Vier bis sechs solcher Reisen absolviert der alte Szajnfeld im Jahr. Die Teenager poltern durch die Baracken, ein Mädchen bricht angesichts der Knochenberge hinter Glas in Tränen aus und macht doch ihre Erinnerungsfotos. Mittendrin läuft der kleine alte Mann, allein. Die Leute schlagen einen Bogen um Szajnfeld. Wenig später sieht man, wie Lehrer und Reiseleiterin Szajnfeld mit Zeitvorgaben reglementieren, als wäre er als Nummer im Programm ein notwendiges Übel. Mendel spricht über Ungeheuerlichkeiten – „kurz und gut und wissenswert“, urteilt der begleitende Lehrer.

Der Dokumentarist Grabe spricht aus, dass der Kaiser keine Kleider anhat: Hier Szajnfeld – da die Gegenwart und zwischen ihnen eine undurchdringliche Wand. „Mendel lebt“ ist nicht nur Grabes zweiter Film über einen Zeitzeugen, der – wenn schon nicht Ehrfurcht – mindestens Respekt verdient. Er ist zugleich einer über die Art, in der Zeitzeugenschaft durch die Gegenwart gedemütigt wird. Rückblenden zur Reise von 1971, in denen Szajnfeld von seiner Lagerhaft spricht, gewinnen in Grabes Regie durchweg Signalwirkung, als sollte in der Wiederholung gezeigt werden, welche Erfahrungen es eigentlich sind, die so von der pädagogischen Aufklärungsroutine verkleinert und ausgebeutet werden. Das stetige Betroffenheitstraining der politischen Bildung muss so nicht nur an Ort und Ereignis scheitern, sondern auch an der emotionalen Demenz und dem mangelnden Anstand seiner Betreiber. „Habt eine glückliche Zukunft!“ wünscht Szajnfeld den Schülern – und nur den Schülern. Anke Westphal

„Mendel lebt“, Regie: Hans-Dieter Grabe, 22.45 Uhr, ZDF

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