Kehrwoche für Neukölln

Ausgerechnet im turkodeutschen Neukölln hat der Grüne Cem Özdemir Quartier bezogen, dort, wo man als Jungschicker, der die FDP beerben will, eigentlich nicht wohnt – weil zu prollig. Was ihn dort hinlockte, erzählt Silke Mertins

Mit farbbekleckster Hose und einem Sortiment Pinseln unterm Arm steht Andreas Wolff auf dem Bürgersteig einer ruhigen Seitenstraße von Neukölln und schnaubt vor Wut. „Ständig reden se alle von Menschenrechten, Kosovo und so!“, hebt der Mittvierziger zum Protest an. „Aber watt is mit uns? Mit unsan Menschenrechten?“

In fünf Tagen will der Handwerker mit der ganzen Familie nach Italien fahren, aber die Bürokratie trübt seine Urlaubsvorfreude. Denn „der Kleene von meena Tochta“, ein junger vietnamesischer Asylbewerber, den Wolff bereits als künftigen Schwiegersohn heftig ins Herz geschlossen hat, hat keine Reisepapiere. „Seit Monaten rennt meene Frau uff de Ämter rum!“ Doch immer neue Hürden stehen einer Eheschließung im Wege.

Wolff legt die Pinsel ab. Er braucht beide Hände, um aufzuzählen, wie viele Dokumente den Behörden bereits vorgelegt wurden. Vergeblich. „Der Kleene“ kann also nicht mit in die Sommerfrische. „Wat meenen Se, wat der enttäuscht is!“

Nun soll der Özdemir von den Grünen helfen. Denn der ist in eines der Mietshäuser seines Chefs eingezogen. In eine nagelneue Dachwohnung mit riesigen Fenstern, die er, Wolff, eigenhändig ausgebaut hat. „Also, mit dem sprech ick nach dem Urlaub erst ma.“

Beim Brötchenholen und Müllrunterbringen mit den Sorgen seiner Mitmenschen behelligt zu werden, gehört zu den ersten Befürchtungen des prominenten Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir. Denn den 33-jährige Neuberliner plagen momentan andere Sorgen. Er hat zwar ein Dach über dem Kopf, aber keinen vernünftigen Boden unter den Füßen. Der Umzug aus der Kleinstadt Bonn konnte ihm der Großstadt Berlin und der Liebe wegen gar nicht schnell genug gehen. Mit seinem Hausstand fand er sich alsbald auf hässlichem Linoleumboden wieder. Aus eigener Tasche Holzdielen zu bezahlen, dazu konnte sich der gelernte Schwabe freilich nicht entschließen. Jetzt lässt der Vermieter Laminat verlegen. Özdemir muss mit Kisten und Mobiliar ständig von einem Zimmer ins nächste umziehen. Auf der Dachterasse zum Hinterhof türmen sich die Teppiche über dem Geländer.

Aber alles Wehklagen über Unbill im neuen Heim hilft ja nichts. „In die Wohnung habe ich mich auf den ersten Blick verliebt.“ Die großzügigen hundert Quadratmeter, so lichtdurchflutet wie ein Wintergarten, hohe Decken und eine Badewanne mit Blick in den Himmel über Berlin fand Özdemir unwiderstehlich. Auch wenn seine Traumwohnung in Neukölln liegt, einem Stadtteil, wo man als Jungschicker aus dem alternativen Milieu eigentlich, weil zu prollig, nicht wohnt.

Von „herzliches Beileid“ über „du spinnst ja!“ bis „selber Schuld“ reichten die standesdünkelnden Kommentare aus Özdemirs Freundes- und Kollegenkreis. Warum nach Neukölln ziehen, wenn es so schöne Stadtteile wie die grüne Heimat Kreuzberg, gehoben Alternatives wie Schöneberg oder Ostszeneflair wie in Prenzlauer Berg gibt? Warum muss Özdemir, der auf blankgeputzte Schuhe hält und keinen Fussel auf seiner Kleidung duldet, in einen Bezirk ziehen, wo auf Plastikstühlen vor Kneipen wie „Zur Sonne“ oder „Zum Adler“ schon vormittags kollektiv die Stütze versoffen wird?

Die günstige Miete ist ein schlagendes Argument“, sagt er offenherzig. Özdemir hatte mindestens fünfzehn Minuten über die Vorzüge seiner Wohnung geredet, ohne eines seiner drei liebsten Klischees über sich selbst zu bemühen: Özdemir, der Schwabe, Özdemir, der Orientale, und Özdemir, der provokante Realo der Grünen. „Außerdem kann ich hier meine Nachbarschaft mitbestimmen.“ Alle Dachwohnungen sind neu ausgebaut. Direkt neben ihm wird sein griechischer Freund, ein Musikproduzent, einziehen. „Meine Wohnung hat aber den viel schöneren Ausblick“, sagt der, schlappt durch Özdemirs Wohnung und bleibt vor der offen gestalteten Einbauküche stehen. „Hier in dieser Ecke könntest du einen Dönergrill einbauen“, sagt er und freut sich über seinen Witz. Typisch griechische Arroganz, freut sich Özdemir zurück. Und die beiden beginnen wie junge Hengste vor einer Stutenschar spielerisch-rivalisierend umherzutänzeln: Wer ist am Ende amüsanter?

Das bleibt offen. Jetzt möchte man noch ausgehen. Aber nicht in Neukölln, sondern ins wohlhabende Charlottenburg, in die „Paris Bar“. Dort zieht es sie hin, dort warten sie schon, Mitarbeiter aus der Fraktion und Besuch aus Schwaben: Publikum für das Freundespaar, das sich unablässig mit türkisch-griechischen Witzchen bei Laune zu halten sucht. Özdemir will glänzen. Unterhalten. Auffallen. Und der Kellner erkennt ihn.

Auch im neuen Heimatviertel ist das nicht anders. Ein türkischstämmiger Herr greift auf der Treppe der U-Bahnstation Rathaus Neukölln nach seiner Hand. Und ein Exgrüner spricht ihn an: Also, für die Grünen seien randalierende türkische Jugendliche immer noch tabu, die dürften sich ja alles erlauben. Özdemir hört zu, nickt, widerspricht. Freundlich. Verständnisvoll. Gewinnend. „Multikulti ist kein harmonisches Kebabessen“, sagt er.

Und möchte nun eiligst in seine Lieblingseisdiele: ein kleiner, schäbiger, von einer Chinesin geführter Laden mit selbstgemachtem italienischen Eis, Plastikblumen und roten Lampen über der Theke. Auf dem Weg zur Wohnungsbesichtigung hat Özdemir sie entdeckt und trinkt seitdem hier gern Eiskaffee, weil es hier „richtig kultig“ ist.

Die Chinesin begrüßt ihn freudig und kramt nach den Zeitungsartikeln über ihn, die sie aufbewahrt hat. Hier zum Beispiel, eine kleine Notiz mit Foto in der B.Z. Sie strahlt. Jaja, sagt Özdemir, „super“.

Mancher unterstelle ihm gern, mit seinem Umzug nach Neukölln wolle er zu seinen proletarischen Wurzeln zurückkehren, klagt der Grüne. Obwohl Özdemir auch mit seiner Herkunft aus einer Arbeiterfamilie zuweilen gern kokettiert, nimmt man ihm ab, dass Spurensuche nicht im Spiel war. Der schmächtige Berufspolitiker sehnt sich nach der Mitte.

„Leute wie dich brauchen wir bei den Grünen“, sagt er zu einer jungen Turkoschwäbin, die sich selbstständig machen will und den Bundestagsabgeordneten im Sommer zusammen mit einer Gruppe aus Stuttgart in Berlin besuchte. Özdemir möchte die Grünen zu einer Partei wandeln, in der sich Selbstständige und Mittelständler zu Hause fühlen. Die FDP beerben – das forderte er vor kurzem mit Gleichgesinnten aus seiner Partei. In Neukölln ist er nur zufällig gelandet.

Allen Unkenrufen zum Trotz – „Endstation Neukölln“ schrieb etwa der Spiegel – ist der Bezirk mit 330.000 Einwohnern alles andere als die Berliner Bronx. Entlang der Sonnenallee und deren Seitenstraßen drängt sich Baum an Baum. Auf den Gehwegen lümmeln sich vor ihren Trödelgeschäften auf alten Sesseln Wohnungsentrümpler in der Sonne. Junge Deutschtürkinnen mit Kopftuch und Zigarette schlendern über die Karl-Marx-Straße. Und Özdemir weiß besonders die verblüffende Anhäufung von Geschäften aller Art zu loben: Vom Schuster bis zum Bestatter sei alles fußläufig zu erreichen.

Nur Kaugummis und Hundescheiße auf der Straße regen ihn auf. So sehr, dass man befürchten muss, er gründet demnächst eine Bürgerinitiative zur Einführung der Kehrwoche.

Silke Mertins, 34, seit Anfang 1999 taz-Tagesthemaredakteurin und immer noch Neuberlinerin, findet Neukölln-Nord im Vergleich zum Süden des Hamburger Stadtteils St. Pauli eher bürgerlich