: Städte-Ertränken am Langen Fluss
Menschen werden umgesiedelt, Ortschaften geflutet: Für den Jangtse-Staudamm opfert China eine Landschaft. Eine Fahrt auf dem Langen Fluss ■ Von Alexander Musik und Silvia Plahl
Sechs Uhr morgens. Das Städtchen Wushan liegt noch in der Dämmerung. Tief hängen Dunstschwaden über dem Hafen. Die kleine Reisegruppe verlässt den Dampfer, schwankt über unbefestigte Planken zum Festland. Einen Anleger gibt es nicht. Bergauf stapfen zwei Dutzend Passagiere an dampfenden Maultaschen und Bananenverkäufern vorbei, denn die ersten Garküchen sind schon angeheizt. Kohlenstaub beißt in den Lungen. Ein Bus bringt die Gruppe zur Großen Drachenbrücke, dem Tor zu den Kleineren Drei Schluchten an einem Zufluss des Jangtse. Die Chinesen nennen ihn Changjiang, Langer Fluss.
100 Kilometer weiter östlich, bei Yichang, kippten am 8. November 1997 Kolonnen von LKWs tonnenweise Felsbrocken und Geröll in den Fluss: Der Jangtse wurde in einen künstlichen Seitenarm umgeleitet. Staatschef Jiang Zemin feierte mit großem Bahnhof den zweiten Abschnitt eines Jahrhundertprojekts: des Drei-Schluchten-Staudamms.
Mit dem Damm zerstört China eines seiner 40 touristischen Highlights unwiderruflich – und bringt eine ganze Region aus dem ökologischen Gleichgewicht. Doch aus den Fugen ist das Land an den Ufern des Jangtse schon jetzt.
Der Nebel über dem Langen Fluss schwindet nie. Während seiner viel gepriesenen Passage von Yichang 600 Kilometer flussaufwärts nach Chongqing tuckert das Flussschiff an Bergen, Felswänden, qualmenden Schornsteinen und grauen Hausfassaden vorbei, die nur als düstere Silhouette erkennbar sind. Der Jangtse selbst: eine braune Brühe.
Doch dem Besucherstrom auf dem Langen Fluss tut das keinen Abbruch: Die lokale Tourismusbehörde ließ in der Presse kurzfristig verlauten, es bestehe kein Anlass zu Panik-Buchungen, dem Jangtse geschehe „vorerst“ nichts. Trotzdem reihen sich – auch jetzt in der Nachsaison – die Dampfer auf dem Fluss wie schmutzig-weiße Perlen – voll besetzt. Tag wie Nacht werden die Schiffe nur auf Sicht gesteuert. Die großteils unbeleuchteten Kähne hupen sich ständig an.
In den De-Luxe-Schiffen mit den roten Pagoden auf dem Oberdeck sitzen die „Langnasen“, zu den „chinese tourist boats“ ein gewaltiger Unterschied. Hier kommt auch aus den Wasserhähnen der besseren Kabinen der Jangtse geflossen. Und die Mäuse zerwühlen dreist die Papierkörbe. Vor den Türen liegen in Decken gewickelt Mütter mit Kindern und alte Menschen, drei Nächte lang schlafen sie auf dem blanken Schiffsboden.
Die zweitgünstigste Standard-Transportvariante sind die sieben Quadratmeter kleinen Sechsbettkabinen. Auch zwei Frauen aus Belgrad haben diese Billigplätze in Kauf genommen, wie alles, was ihnen in China widerfährt. „Das ist eben die Mischung aus Sozialismus und Orient, da sind die Begriffe dehnbar“, sagt eine der beiden, „Raum, Zeit, Hygiene, auch die Preise – alles ist flexibel.“
An der Großen Drachenbrücke dürfen die Touristen gegen gutes Geld für acht Stunden dem „chinese tourist boat“ entkommen. Hier können sie meergrünem Wasser auf den steinigen Grund sehen. Der Fluss an den Kleinen Drei Schluchten ist so seicht, dass zwei Männer die kleine Schaluppe mit Bambus-Staken und ihrem Körpergewicht in der Fahrrinne halten müssen. Mit archaischen Gesängen feuern sie sich an. Das Boot quält sich durch die Drachenschlucht, die Nebel- und die Smaragdschlucht. Plötzlich wenden sich alle Köpfe einem Loch in den steilen Felswänden zu. Die Einheimischen nennen es Panda-Höhle. Haben die Staker hier schon einmal einen Pandabären gesehen? „Nein, nur in Peking, im Zoo.“
Dreimal wird in den Drei Schluchten gehalten, und jeder der drei Stopps hat den gleichen Ablauf: Eine Betontreppe führt auf halber Höhe um eine Flussbiegung, die zu einer Konsummeile verkommen ist. Fettgebackenes, Jadeschmuck, Nippes, Filme werden den Touristen lauthals aufgedrängt. Die Dorfbewohner leben neben ihren Ständen in notdürftig eingerichteten Zelten aus Bambus und Plastikplanen. Die Massen schieben sich die Treppen auf und ab, ein bisschen wie auf der Flucht vor der endlosen Gasse der Marktschreier.
Gar nicht so einfach, nach dem Abstieg wieder ins richtige Boot zu finden unter den Dutzenden, die den Fluss auf- oder abwärts kreuzen. In den Niederungen laufen Kinder den Booten hinterher, werfen pralle Pampelmusen an Bord und hoffen, dass ein oder zwei Yuan-Scheine zurückfliegen.
Die Einheimischen leben von dem, was hier wächst – Gemüse und Obst, das sie auf schwer zugänglichen kleinen Parzellen anbauen. Auch sie müssen dem Drei-Schluchten-Staudamm weichen, weil die Regierung in Peking die Stromversorgung Ostchinas sichern will.
18.200 Megawatt Elektrizität sollen die Wasserkraftturbinen einmal produzieren. Den Menschen am Jangtse – ein Dreizehntel der Weltbevölkerung – wird versprochen, dass sich ihre Opfer lohnen. Schon jetzt werden Dörfer, die der Stausee unter sich begraben wird, an anderer Stelle neu aufgebaut.
Doch Peking verspricht noch weitere Wunder. Der unbezwingbare Fluss könnte gebändigt werden. Das staatliche Fernsehen CCTV wurde nicht müde, in aufwendigen Spots für das Projekt zu werben, und strahlte vor allem in den Tagen der Staudamm-Einweihung, als die Welt wieder stirnrunzelnd nach China schaute, Archivreportagen über einen Fluss aus, der seit ewigen Zeiten immer wieder über die Ufer getreten ist. Und viele Menschen um ihre Existenz gebracht hat.
Für die Zukunft der „Industrie ohne Rauch“, wie die Chinesen den Tourismus nennen, gibt es am Jangtse kein Konzept. Vielleicht hofft man auf die Gutmütigkeit der Landsleute, die auch andere Unbill hinnehmen.
Vor der Schleuse am Gezhouba-Damm läuft das „chinese tourist boat“ aus dem Ruder und setzt steuerbord an der Kaimauer auf. Großes Geschrei. Alle müssen in der Dunkelheit von Bord, das Schiff muss leichter werden, um freizukommen.
In der Schleuse treiben die Styropor-Verpackungen, in denen auf den Schiffen das Essen ausgegeben wird, mit dem anderen Müll und dem Schiff 20 Meter nach oben. Schon der Gezhouba-Damm hat das ökologische Gleichgewicht am Jangtse gestört. Störe, die flussaufwärts zum Laichen wollten, kommen nicht mehr durch.
In der „Geisterstadt“ Feng Du, 60 Kilometer vor Ankunft, hebt sich das triste Hafenviertel kaum vom grauen Himmel ab. Milchig-verschwommen dümpeln verrostete Schlepper im Wasser. Zwei sind gerade havariert, und lautlos versinkt einer von ihnen im trüben Jangtse. Das interessiert hier keinen.
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