„Niemand raucht mehr“

■  James Osterberg alias Iggy Pop, 52, trägt zwar immer noch Jeans, hat aber nun für sich die Würde des Alterns entdeckt. Der Punk der ersten Stunde über die Modeindustrie als Traumfabrik, über Zeitreisen von Miami nach Argentinien und den Charme italienischer Flughäfen

taz: Auf Ihrem neuen Album „Avenue B“ findet sich eine ganze Reihe nachdenklicher Rocksongs und Spoken-Word-Tracks, in denen Sie von Würde und vom Altern sprechen.

Als ich jung war, konnte ich es nicht erwarten, älter zu werden, weil man erst, wenn man erwachsen ist, in den vollen Genuss seiner Rechte gelangt. Ich habe persönlich ja nie an den amerikanischen Mythos geglaubt, der auf dem Missverständnis aufbaut, dass man als erwachsener Mensch keine Freiheiten mehr hat. Ich habe das nie geglaubt. Ich persönlich bin jetzt über fünfzig und habe feine Zwischentöne im Leben entdeckt, die ich früher nie für möglich gehalten hatte.

Wenn Sie zurückblicken, denken Sie dann manchmal: Das mit den Drogen hätte ich vielleicht besser gelassen, es hätte mich umbringen können?

Nein. Es gab zwar Perioden, in denen ich mit meiner Darbietung als menschlichem Wesen nicht zufrieden war. Solche Phasen haben aber immer dazu geführt, dass ich mein Verhalten änderte. In diesem Sinne frage ich mich auch nicht, was wohl passiert wäre, wenn ich bestimmte Drogen damals nicht überdosiert hätte. Sondern ich sehe ausschließlich, dass mich offenbar auch das Überdosieren von Drogen zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Die Überdosen waren quasi ein Teil meines Weges.

Ihr Weg hat Sie von New York nach Miami geführt, einer Stadt, die als das Bankenzentrum Südamerikas gilt ...

Das stimmt. Aber nicht nur die Reichen gehen nach Miami. Es gibt eine wahre Flut armer Menschen, die ihr Glück dort ebenfalls versuchen. Nur die Mexikaner gehen nach Los Angeles, die anderen Mittel- und Südamerikaner hingegen nach Miami. In Miami hat jede ethnische Gruppe starke Communities. Es gibt viele Schwarzafrikaner und Menschen aus Haiti. Insbesondere die Kubaner sind stark in Miami. Und viele von ihnen sind aggressiv. Sehr organisiert, sehr hart. Und sie mögen uns Gringos nicht so sehr. In Miami herrscht eine spürbare Spannung, die viele der Weißen dazu bewegt hat, die Stadt zu verlassen und ins 50 Meilen entfernte Dayton County zu flüchten. Sie haben Angst vor den Kubanern, Angst um ihre Golfplätze. Ich dagegen mag dieses extreme Nebeneinander von Reichtum und extremer Armut.

Wo leben Sie?

Ich gebe zu, ich wohne in einem dieser reichen Quartiere. Da gibt es ruhige Straßen und große Häuser. Und die Shops, in denen man einkaufen kann, sehen aus, als hätte sie Walt Disney entworfen. Es ist ziemlich dekadent. Und nur eine Meile entfernt wohnen Menschen, die sehr gefährlich werden können. Sie sind arm, aber drogenabhängig, und unter der heißen Sonne Floridas extrem gewaltbereit. Sie haben keine Schule besucht und keine Erziehung genossen. Sie besitzen nichts und haben keine Arbeit. Und dann gibt es den South Beach mit all den Touristen und den Strandfrauen mit den dicken Brüsten. Das sind sehr amerikanische Gegensätze. Was ich vor allem an Miami mag, ist, dass die Stadt ein diffuses, ein vergebendes Licht hat. Es ist ein freundliches, karibisches Licht. Die Wolken sind oft große Knäuel. Am tollsten ist aber, dass man mit dem Flugzeug nur drei Stunden nach Bogotá braucht, auch New York ist drei Stunden entfernt.

Es gibt ein sehr schönes Stück mit dem Titel „Miss Argentina“ auf Ihrem neuen Album. Auch eine Hommage an Lateinamerika?

Ich habe tiefe Gefühle für Argentinien. Wenn ich nach Buenos Aires fliege, dann habe ich den Eindruck, ich würde mich an einem Ort befinden, an dem die Zeit stehen geblieben ist. Hier funktioniert meist alles, und vieles ist modern, aber gleichzeitig kann man sich einbilden, man wäre durch einen Zeittunnel gegangen und in der Vergangenheit gelandet. Ich fliege aus diesem Grunde häufiger nach Lateinamerika, auch nach Kolumbien, weil mir diese Ausflüge das Gefühl geben, ich würde mich direkt in die Vierzigerjahre begeben.

Sind Sie nostalgisch?

Ja, warum auch nicht? Die Industrienationen haben in den vergangenenen Jahrzehnten unfassbare Anstrengungen darauf verwendet, das öffentliche Leben zu normen. In Europa und Amerika wird es immer schwerer, Nischen und unschuldig gewachsene Dinge zu entdecken. In Amerika ist es zum Beispiel ein Ding der Unmöglichkeit, ein Ei zu finden, das sich von einem anderen Ei unterscheidet. Als ich jung war, da war jedes Ei noch einzigartig. Ein Beispiel: Früher konntest du noch in Diner gehen, und dein Spiegelei wurde vor deinen Augen gebraten. Heute gibt es in Amerika nur noch Schnellrestaurants und Systemgastronomie.

Ist Systemgastronomie nur ein anderes Wort für Hölle?

Das ist der Untergang. Franchising zerstört die Menschen, weil es ihnen das Besondere im Alltag nimmt, weil es die Menschen und ihre Wahrnehmung auf ein Mindestmaß reduziert. In den Ländern, in denen die Wirtschaft Probleme hat, wo die Menschen zwar Geld haben, das Geld aber nichts wert ist, da macht es keinen Sinn, Franchising zu betreiben. Da sind die Menschen natürlicher geblieben. Das empfinde ich als charmant, und ich versuche dieses Gefühl so häufig wie möglich zu erleben.

Aber Sie laufen nicht Gefahr, an der modernen Welt zu verzweifeln, oder?

Nein. Ich beobachte nur. Ich akzeptiere die Dinge so, wie sie sind. Wenn ich zum Beispiel feststellen sollte, dass die Welt zu reglementiert ist, dann kann ich immer noch sagen: Ich gehe dem Shit aus dem Weg. Ich kann entweder selber ein Spiegelei braten, oder ich kann nach Südamerika fliegen. Niemand muss verzweifeln.

Und wenn Sie keine Lust verspüren, selbst zu kochen, was dann?

Wenn niemand guckt, dann gehe ich zu McDonald's und bestelle mir einen riesigen, saftigen, köstlichen Big Mac. Niemand ist perfekt.

Sie gehören zu den wenigen Musikern, die noch Fleisch essen. Sind Sie altmodisch?

Oh, Sie haben ja so Recht: Niemand isst mehr Fleisch heutzutage, niemand raucht mehr, niemand denkt mehr. Amerika war erträglich bis zu dem Tag, an dem sie das Rauchen auf den Flughäfen verboten hatten. Seitdem geht es nur noch bergab. Ich möchte wieder richtige Flughäfen, auf denen man richtigen Kaffee trinken kann und den Rauch von Zigarren einatmet. Italienische Airports.

Wie erklären Sie sich die Lustfeindlichkeit, die uns in den Industrienationen umgibt?

Das ist die Diktatur der Puritaner! Sie fühlen sich schuldig dafür, dass sie so viel Geld besitzen. Also versuchen sie geradezu hysterisch, die Welt von allem Makel reinzuwaschen. Das geht dann ein paar Jahre in die eine Richtung, und nach ein paar Jahren muss etwas anderes blankgeputzt werden. Dass dabei die Lebensqualität auf der Strecke bleibt, ist das Opfer, das die Puritaner bereit sind zu geben. Im Moment führen sie einen heiligen Krieg gegen das Rauchen. Sie schreien: Esst mehr Gemüse! Mal sehen, was als nächstes auf uns zu kommt.

Haben Sie deshalb kürzlich die Musik für eine Modenschau von Versace beigesteuert, weil Versace mit seinem zelebrierten Luxus das Gegenteil von Lustfeindlichkeit darstellt?

Ich muss zugeben, dass ich jahrelang solche Art von Angeboten rigoros abzulehnen pflegte, weil ich dem Irrglauben nachhing, dass man sich ausverkaufen würde. Irgendwann aber hatte ich umgedacht: Wie oft musste ich mir angucken, wie all diese Schwanzlutscher auf den VH-1 Fashion Awards rumhampeln, und mich gefragt, ob man das nicht besser machen könnte. Als mir Donnatella Versace angeboten hatte, auf einer ihrer hochgezüchteten Shows ein Konzert zu geben, sagte ich mir: Jetzt kannst du hier einmal etwas geraderücken. Ein positiver Seiteneffekt für mich war, dass diese Modeleute eine obszön gigantische PR-Maschine in den lateinamerikanischen Ländern haben, die ihre Modeschauen über das TV direkt nach Kuba, Kolumbien, Brasilien, Peru, Chile und die ganzen anderen Länder überträgt. Das konnte ich nicht ausschlagen. Seit ich die Versace-Show gemacht habe, erkennen mich auch die Kubaner auf den Straßen von Miami.

Wann werden Sie die nächste Modenschau beschallen?

Manche Dinge sollte man nicht wiederholen, weil dadurch die gute Erinnerung an das erste Mal zerstört würde. Aber ich sage Ihnen eins: Diese Modeleute wissen, wie sie ihre Mitarbeiter bei Laune halten. Ich wurde vom Flughafen abgeholt, als ob es sich um einen Staatsempfang handelte, und das Hotel war außerordentlich chic. Es gab keine Verzögerungen, alles war professionell organisiert, und ich habe wahnsinnig viel Geld verdient. Als ich gespielt habe, tanzten in der ersten Reihe Donnatella Versace und Kate Moss. Zum Schluss bin ich mit Donnatella über den Laufsteg gegangen. Ich habe es genossen.

Was haben Sie von der Modewelt gelernt?

Modemenschen sind die am härtesten arbeitenden Menschen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, daher könnte ich auch nie in der Branche arbeiten. Ich könnte nicht um sechs Uhr morgens auf einer Besprechung die Bademode für die Schönen und Reichen erörtern, wenn ich die Nacht zuvor mit Silvester Stallone bis um vier Uhr aus war. Mit dieser Arbeitsmoral aber hat die Modeindustrie das Territorium erobert, das früher Hollywood gehörte: die Welt der Träume.

Und die Musik?

Ich glaube ja, dass die Musikvideos mit ihrem Aufkommen Anfang der Achtzigerjahre einen so großen Erfolg hatten, weil sie große Träume komprimierten. Die Fashionleute haben das erkannt. Wenn man sich anguckt, wie Versace, Armani und Calvin Klein ihre Mode verkaufen, dann fallen einem auf Anhieb die Stummfilme der Zwanziger- und Dreißigerjahre ein: Calvin Klein verkauft dir das gesunde, etwas bodenständige Douglas-Fairbanks-Image. Dann hast du Versace mit diesem Erich-von-Strohheim-Mood, wo jeder sagte: „Wusstest du, dass sie in seinen Filmen echten Champagner tranken, echtes Kokain schnupften und wirklich fickten?“ Armani ist Valentino. Elegant, sehr sexy und sehr latin. Diese Images werden im Kino nicht mehr vermittelt. Der letzte Held alter Schule, der mir einfällt, ist Clint Eastwood. Es hat viele Phasen gegeben in meinem Leben, in denen ich am Boden lag. Wenn ich mir dann vorgenommen hatte, diese Phasen zu beenden, dann bin ich ins Kino gegangen und habe mir einen Clint-Eastwood-Film angeguckt. Ich habe mir dann immer diesen Mann auf der Leinwand angeguckt und vorgestellt, dass ich es wäre, der da agiert. Genauso mächtig, genauso unabhängig, genauso potent. Der andere große amerikanische Schauspieler, dem ich alles abkaufe, ist Christopher Walken. Ansonsten sollte man sich auf das Europäische Kino beschränken.

Interview: Max Dax