■ Ein Jahr Rot-Grün (2): Langsam wird sichtbar, was die Regierung sozial- und finanzpolitisch will: mehr Nachhaltigkeit. Damit versucht sie in Deutschland etwas fundamental Neues: Helden des Rückzugs
Die Herbststürme über den Koalitionsparteien lassen nur einen Schluss zu: Die Monate der Regierung Schröder sind gezählt. Das ist die eine Interpretation. Die andere: Heute wird sehr viel radikaler als zu Beginn der Kohl-Zeit ein neuer Anfang geprobt. Der Erfolg, in der Sache wie bei Wahlen, bleibt ungewiss, ist aber durchaus möglich.
I. Als Kanzlerkandidat stand Schröder vor der Alternative, einen verlorenen oder einen verlogenen Wahlkampf zu führen. Es ist bekannt, wie sich die SPD entschieden hat. Die Folgen werden die Regierung noch lange einholen. Schlimm für sie ist weniger, was sie getan, als was sie versäumt hat, nämlich sich einen Wählerauftrag und eine Legitimation zu beschaffen für ihre Politik; politisches Kapital zu akkumulieren, das sie in schlechten Zeiten ausgeben kann.
Nach den Versprechen und dem Zwang, sie einzulösen, kam das Stück „Avanti Dilettanti“, mit den 630-Mark-Jobbern und den Scheinselbstständigen in den Hauptrollen, es kam der Zusammenstoß der Regierung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Im einen Fall hatte die Gesellschaft, derweil die Experten über einen „sozialverträglichen Niedriglohnsektor“ streiten, sich in einem solchen Sektor längst eingerichtet, nur leider etwas außerhalb der Legalität und zu Lasten der Sozialkassen. Dieser Zustand hat schon der alten Regierung nicht gefallen, und es ist nicht bekannt, dass die jetzige Opposition die neue Regelung der 630-Mark-Jobs (seit dem 1. April 1999) wieder außer Kraft setzen würde: pauschal 12 Prozent an die Renten- und 10 Prozent an die Krankenversicherung und steuerfrei, wenn es sich nur um ein 630-Mark-Verhältnis handelt.
Der Flucht aus dem Sozialversicherungsstaat wollte die Regierung auch mit dem Gesetz vom Dezember 1998 gegen die Scheinselbstständigkeit einen Riegel vorschieben. Bald stellte sich heraus, dass es nicht praktikabel war, dafür aber junge Leute wirksam abschreckte, sich selbstständig zu machen. Ende Oktober wird nun eine Kommission eine Reform der „Reform“ vorschlagen und vor allem die Beweislast umkehren.
Geblieben ist in beiden Fällen der Eindruck von einer Regierung, die zu hastig und zu wenig durchdacht ans Werk geht, um dann komplizierte und wirklichkeitsfremde Regelungen zu produzieren. Die Deutschen hätten ja am liebsten beides: die Systeme für die große Sicherheit und die Schlupflöcher für die kleinen Freiheiten. Beides geht auf Dauer nicht, da hatte Riester wohl recht.
Doch die Neuregelungen greifen tief in den Alltag vieler „kleiner“ Leute ein, ohne das Problem, den Mismatch zwischen Arbeitswelt und Sozialsystemen, wirklich zu lösen. Wäre es dann nicht einfacher, besser und gerechter, sämtliche Einkommensarten zur Finanzierung der sozialen Sicherheit heranzuziehen, ob aus Arbeit oder aus Aktien, aus selbstständiger oder aus abhängiger Tätigkeit?
II. Die ersten Monate zeigten eine Regierung, die von den Umständen und von ihren eigenen Fehlern regiert wurde. Das hat sich mit dem Steuer- und Sparpaket geändert. Darin geht es nicht nur um Facts and Figures; es geht um eine andere soziale Philosophie für das 21. Jahrhundert. Die offene Frage ist, ob die Regierungsparteien die Zeit und die Kraft haben, dafür Mehrheiten zu gewinnen.
Im Jahr 2000 sollen im Bundeshaushalt 30,4 Milliarden, bis zum Jahr 2003 insgesamt 160,7 Milliarden Mark eingespart werden. Das Kindergeld wird für das erste und das zweite Kind um jeweils 20 Mark auf 270 Mark erhöht. Eine durchschnittlich verdienende Familie wird, den höheren Grundfreibetrag eingerechnet, im Jahr 480 Mark mehr haben. Die kleinen und mittleren Einkommen werden entlastet. Doch die sozialen Ärgernisse bleiben.
Der Familienlastenausgleich wird, der Logik des Verfassungsgerichtes folgend, die Kluft zwischen Reich und Arm vergrößern und dafür an den Alleinerziehenden und an den Betreuungskosten sparen. Milliarden fließen in eine Richtung, wo der Grenznutzen für Kinder und Familien gleich null ist. Ein Konzept für eine vernünftige Familienpolitik ist nicht erkennbar. Dagegen ist die geplante Steuerreform (ab 2001) ein positives Signal, „besser als alles andere, was die Politik den Betrieben in der Vergangenheit angeboten hat“, so der Deutsche Industrie- und Handelstag. Die Körperschaftssteuer soll auf einen einheitlichen Satz von 25 Prozent gesenkt werden. Die Belastung einschließlich der Gewerbesteuer wird dann unter 40 Prozent liegen, niedriger als in Japan und in den USA. Der Mittelstand wird von 2000 bis 2002 um über zwölf Milliarden Mark entlastet werden.
Und: Mit Walter Riester ist der Rentenrealismus in die Politik zurückgekehrt. Es bildet sich ein neuer Konsens, die Überzeugung nämlich, dass das jetzige System keinen Bestand haben kann, auch wenn die elegante, zugleich soziale und liberale Idee einer kapitalgedeckten, obligatorischen Zusatzvorsorge offensichtlich noch zu früh kommt. Eine Sparzulage von bis zu 250 Mark ist immerhin die zweitbeste Teillösung für ein Rentenreformpaket, dessen großer Wurf ja noch aussteht.
III. In der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik wird langsam ein roter Faden sichtbar. Die Leitlinien der neuen Politik lassen sich in zwei Aussagen zusammenfassen: Die soziale Frage beschränkt sich nicht auf die Gegenwart, sie umfasst auch die Zukunft. Wenn man die Helden des Rückzugs beim Wort nimmt, dann geht es ihnen um eine nachhaltige Sozialpolitik.
Und zum anderen: Die soziale Frage richtet sich nicht mehr nur an den Staat. Es geht um eine Neuverteilung der Gewichte zwischen Staat, Gesellschaft und persönlicher Verantwortung. Nicht nur die Rente, die soziale Gerechtigkeit insgesamt wird künftig auf drei Säulen ruhen: auf einem gewissen Maß an materieller Verteilungsgerechtigkeit, über die die Regierung freilich etwas zu vernehmlich schweigt; auf der Generationengerechtigkeit, die bei Riester in besseren Händen ist als bei seinem Vorgänger; und auf der Beteiligungsgerechtigkeit, die aus sozialen Fällen soziale Mitspieler macht, die Menschen nicht nur alimentiert, sondern auch aktiviert.
Es gibt also neue und richtige Akzente, und es gibt blinde Flecken und tote Winkel. Die Regierung Schröder betreibt Sozial-, nicht Gesellschaftspolitik. Sie hat kein Gefühl dafür, dass das gesellschaftliche Leben weiter reicht als der Sozialstaat. Sie ist damit beschäftigt, Ansprüche abzuwehren, findet aber keine Sprache, Ansprüche an die Gesellschaft zu formulieren, und dies durchaus in beide Richtungen, nach „oben“ und „unten“, an jene, die den Sozialstaat brauchen, wie an jene, die Staat und Gesellschaft brauchen.
Auch diese Bundesregierung hat keinen Sinn für die lokale Gesellschaft als Arena der Politik. Beschäftigungspolitik wird lokal sein oder sie wird nicht erfolgreich sein. Doch die Kommunen werden auch von dieser Regierung weiter belastet. Kosten werden abgewälzt, beim Wohngeld, bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Dabei käme es darauf an, den kommunalen Bereich sozialpolitisch neu zu ordnen. Der Vorschlag des CDU-Abgeordneten Merz in der Haushaltsdebatte, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen, geht in die richtige Richtung. Der sächsische Arbeitsminister Schommer bereitet entsprechende Initiativen vor. Auch im Hause Riester macht man sich Gedanken darüber. Eine zeitgemäße Gesellschaftspolitik braucht künftig beides: den geordneten Rückzug des Zentralstaates und die Aktivierung, den Aufbruch der lokalen gesellschaftlichen Kräfte.
Am Ende der trägen und verlorenen 90er-Jahre bewegt sich etwas in Deutschland. Es gibt kein Zurück mehr, weder für diese noch für eine künftige Regierung. Veränderungen, so haben Optimisten gesagt, gehen etwas langsamer in Deutschland, dafür aber kommen sie dann gründlich und in einem breiten Konsens daher.
Und Realisten haben gewusst: Wer wirklich etwas verändern will, muss es riskieren, Wahlen zu verlieren. Diese Erfahrung haben beide nun gemacht, die CDU vor einem Jahr, SPD und Grüne in diesen Wochen. Keine schlechte Voraussetzung eigentlich für eine informelle große Koalition, die das Land weiterbringen könnte. Warnfried Dettling
Hinweise:Rot-Grün fehlt ein Begriff von Gesellschaft – man denkt in StaatskategorienVeränderungen brauchen in Deutschland länger. Aber dann sind sie auch gründlich
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