: Das Vermächtnis des Paul Kirchhof
■ Verfassungsrichter Kirchhof hat die Steuerpolitik in Ketten gelegt. Freibeträge müssen Großverdiener stärker entlasten
Erst vergangene Woche hat Verfassungsrichter Paul Kirchhof wieder einen Pflock eingerammt. Eigentlich hatte das Verfassungsgericht nicht entschieden. Dennoch liefen die Nachrichtenticker heiß, und die Bild-Zeitung rapportierte auf Seite 1 ein „wichtiges Urteil“ aus Karlsruhe. Kinderreiche Familien müssten zusätzlich entlastet werden, so lautete der Spruch, wenn indirekte Steuern wie die Ökosteuer ansteigen. Die roten Roben des höchsten deutschen Gerichts nahmen zwar die Klage der sechsköpfigen Familie formell gar nicht an. Klagt bei einem anderen Gericht, dann bekommt ihr Recht, hieß die Botschaft. Jeder wusste, wer sie formuliert hatte: Paul Kirchhof.
Kirchhof (56) ist der wohl meinungsstärkste und einflussreichste Verfassungsrichter. Als Berichterstatter für die Urteile zur Vermögenssteuer, den Immobilien-Einheitswerten, zum Existenzminimum, Zinseinkünften oder zum Familienlastenausgleich dürfte er Verfassungsgeschichte geschrieben haben. Kirchof hat die Steuerpolitik auf Jahrzehnte hinaus in Ketten gelegt.
Zum Beispiel beim Familienlastenausgleich. Was das Verfassungsgericht unter Kirchhof beschloss, beendete die tatenlose Familienpolitik der Kohl-Ära – und legte die der künftigen Bundesregierungen fest. Familien müssen demnach entlastet werden, und zwar bis zum Jahr 2000 mit der Einführung eines Betreuungsfreibetrags und bis 2002 mit der Einführung eines Erziehungsfreibetrages. Auch die Höhe der Freibetragsgrenzen gab das Gericht vor.
Die eigentliche, die soziale Vorgabe aber versteckte das Gericht in der impliziten Formulierung, dass nur mit normalen Freibeträgen zu arbeiten sei. Was für den Unkundigen nichts weiter sagt, bedeutet juristisch viel. Ein normaler Freibetrag wird zum Steuersatz gemäß des jeweiligen Einkommens fällig – er begünstigt also jene, die viel verdienen. Ein steuerlicher Grundfreibetrag aber, der dem Hilfsarbeiter genauso viel bringt wie dem Großverdiener, darf laut Gericht nicht sein. Das schränkt die Möglichkeiten des Gesetzgebers fast völlig ein. Denn niemand wagt, gegen einen Richterspruch aus Karlsruhe Gesetze zu machen.
Die halbe Finanzwissenschaft läuft gegen den Begriff steuerliche Gerechtigkeit Sturm, wie ihn der fünffache Vater Kirchhof interpretiert. Die von Kirchhof angeführte „herrschende Meinung, dass das Millionärskind stärker entlastet werden muss als das einer Putzfrau“, sagt etwa der Papst der Steuerökonomen, Dieter Schneider, „ist moralisch und ökonomisch nicht nachvollziehbar“. Der Meinung ist auch Peter Bareis, der Vorsitzender der Steuerreformkommission von Theo Waigel war.
Auch in Karlsruhe hat Kirchhof inzwischen Gegner in der Sache. Die PräsidentInnen des Gerichts, Jutta Limbach und Hans-Jürgen Papier, haben jüngst angedeutet, dass Kollege Kirchhof zu wenig Gebrauch macht von der Zurückhaltung, die das Grundgesetz dem Gericht auferlegt. Für Rot-Grün kommt das zu spät. Wenn Kirchhof demnächst in Pension geht, hat er sein Vermächtnis geschrieben.
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