Schöne neue Weltordnung

Der Fall der Berliner Mauer erzeugte bei vielen Menschen in Europa ein Gefühl von Aufbruch, Optimismus und Zuversicht. Selbst wenn sich individuell vieles zum Besseren wendete, globalpolitisch sind die letzten Jahre ein Jahrzehnt der enttäuschten Hoffnungen Von Andreas Zumach

Das Jahr 1989 war keine Stunde Null der Geschichte. Noch weniger als das Jahr 1945. Die nationalen Interessen, gegenseitigen Wahrnehmungen und kulturellen Differenzen, die die über vierzigjährige Epoche der globalen Ostwestkonfrontation geprägt hatten, existieren auch nach dem Fall der Berliner Mauer weiter. Zerstört war allenfalls der Glaube, wenn nicht an die Ideale des Sozialismus, so doch an ihre Umsetzung im Rahmen zentralistisch organisierter, autoritärer Staatssysteme. Dennoch erzeugte das Verschwinden des Eisernen Vorhangs das Gefühl vom Neuanfang der Geschichte.

Die Menschen in Osteuropa hofften auf Demokratie, persönliche Freiheit, die volle Umsetzung der Menschenrechte und wirtschafliches Wohlergehen (in welcher Prioritätenfolge auch immer); die BewohnerInnen Nordamerikas und Westeuropas, die sich in der Ostwestblockordnung relativ komfortabel eingerichtet hatten, setzen auf die „Friedensdividende“ (die Verwendung der bislang für militärische Abschreckung verwendeten Ressourcen für zivile Zwecke) sowie auf Kooperation mit den bisherigen „Feind“-Staaten des Ostens. Gebündelt wurden diese Hoffnungen 1990 in der „Charta für ein neues Europa“ des KSZE-Gipfels von Paris. Danach sollte die einzige gesamteuropäische Organisation zum „Herzstück der europäischen Architektur“ (Helmut Kohl im Herbst 1989 in seinen zehn Thesen zur Herbeiführung der deutschen Einheit) ausgebaut werden.

Für die große Mehrheit der Weltbevölkerung, die außerhalb Europas und Nordamerikas lebt, war der Fall der Berliner Mauer von geringerer Relevanz. Ein Umstand, über den die zu gut achtzig Prozent von Westeuropa und den USA dominierte weltweite Medienberichterstattung hinwegtäuschte. Lediglich in einigen Regionen des afrikanischen Kontinents entstand die Hoffnung auf Beendigung bisheriger Stellvertreterkriege der Großmächte USA und Sowjetunion sowie auf die Lösung bislang durch den Kalten Krieg verdeckter regionaler Konflikte.

Über die Bedeutung hinaus, die der Mauerfall für die Bevölkerung verschiedener Weltregionen hatte, verband viele Menschen in West, Ost und Süd die Hoffnung, jetzt könnten endlich globale Probleme wie Umweltzerstörung, Hunger, Überbevölkerung und Aids angegangen werden. Nach dem Ende der Ostwestblockade im Sicherheitsrat und anderen UN-Gremien könnte die Weltorganisation endlich die Rolle spielen, die ihr in der Gründungscharta zugeschrieben wurde.

Ausdruck dieser Erwartungen an eine neue aktive Rolle der UNO waren zum einen die großen Weltkonferenzen in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts (zu Umwelt und Entwicklung, Menschenrechten, Frauen oder Sozial- und Bevölkerungsfragen). Zum anderen wurde die UNO von den Mitgliedern des Sicherheitsrates stärker als je zuvor eingesetzt zur Konfliktintervention. Zwischen 1991 und 1994 stieg mit den UNO-Missionen in Kroatien, Bosnien, Kambodscha, Somalia und Ruanda die Zahl der Blauhelmsoldaten von 17.000 auf 96.000.

Die Vorstellung einer künftigen Weltinnenpolitik – von der UNO als wichtigstem Instrumentarium zur Herbeiführung einer friedlicheren und gerechteren „neuen Weltordnung“ – bestimmte den öffentlichen Diskurs in vielen Ländern. Dabei hätten bereits Umstände und Autor der Wortschöpfung „neue Weltordnung“ skeptisch machen müssen: Es war US-Präsident George Bush, der den Begiff 1991 nach dem siegreich beendeten Krieg gegen Irak prägte. Tatsächlich war es dieser erste Hightechkrieg, geführt von einer Allianz unter dem Kommando der einzig verbliebenen Supermacht nach vorheriger Nötigung des UNO-Sicherheitsrates zur Kriegsermächtigung, der wie kein anderes Ereignis die realen weiteren Entwicklungen dieses Jahrzehnts bestimmt hat – jenseits aller guten Absichtserklärungen nach dem Herbst 1989.

Zwar erfüllten sich für viele (noch längst nicht für alle!) Menschen in Osteuropa inzwischen die an den Fall der Berliner Mauer geknüpften Erwartungen weitgehend. Auch im weltweiten Maßstab wurden – nimmt man die blutige Geschichte des auslaufenden 20. Jahrhunderts zum Maßstab – seit 1989 auf dem Papier immerhin wichtige zivilisatorische Fortschritte erzielt: etwa mit der Verständigung einer großen Mehrheit aller UNO-Staaten auf gemeinsame Normen wie die Universalität und Unteilbarkeit der seit 1945 kodifizierten Menschenrechte oder mit der Verabschiedung des (allerdings bislang nicht in Kraft getretenen und von den USA weiterhin heftig bekämpften) Statuts für einen Internationalen Strafgerichtshof.

Doch für den Lebensalltag einer großen Mehrheit der jetzt sechs Milliarden ErdbewohnerInnen fällt die Bilanz der „neuen Weltordnung“ so düster aus, wie Aldous Huxley das bereits 1932 in seinem antiutopischen Roman „Schöne neue Welt“ für die Epoche nach dem Ersten Weltkrieg diagnostizierte.

Trotz Internet und anderer atemberaubender technologischer und wissenschaftlicher Entwicklungen haben sich die Lebens- und Umweltbedingungen für vier Fünftel der Menschheit verschlechtert. Dies belegen die jährlich veröffentlichten Statistiken des UNO-Entwicklungsprogramms und alle anderen einschlägigen Untersuchungen. Die Schere zwischen Einkommen, Vermögen und anderen Ressourcen, die dem reichsten Fünftel und dem ärmsten Fünftel der Bevölkerung zur Verfügung stehen, hat sich weiter geöffnet. Das gilt im globalen Nordsüdvergleich, wie innerhalb fast aller Industriestaaten des Nordens und vieler Länder des Südens.

Durch den seit einigen Jahren so bezeichneten Prozess der „Globalisierung“ werden öffentlichen Kassen immer mehr Steuermittel entzogen. Die Spielräume, durch den Einsatz finanzieller Ressourcen Politik zu gestalten, werden immer geringer. In Westeuropa und Nordamerika kommt hinzu, dass die erhoffte „Friedensdividende“ ausgeblieben ist. Die Regierungen bleiben allen früheren KSZE-Versprechungen zum Trotz bei der Nato, für die 1999 so viel Geld ausgegeben wurde wie 1989 – ausschließlich der Kosten des Kosovokrieges.

Infolge der Verengung finanzieller Spielräume ist die Bereitschaft vieler Staaten gesunken, sich an der Finanzierung der internationalen Aufgaben zu beteiligen, die seit 1989 innerhalb des UNO-Systems als gemeinsame verabredet wurden. Ein Beispiel ist der Beschluss der Berliner rot-grünen Koalition, den deutschen Beitrag zum UNO-Entwicklungsprogramm von 1999 auf 2000 um fünfzig Prozent zu kürzen. Damit wird die materielle Krise der Weltorganisation – Ende der Achtzigerjahre ursprünglich ausgelöst durch die anhaltende finanzielle Erpressung durch den nominell größten Beitragszahler USA – zusätzlich verschärft und ihre Handlungsfähigkeit weiter eingeschränkt. Politisch ist die UNO ohnehin diskreditiert und geschwächt, nachdem ihre wichtigsten Mitgliedsstaaten sie zum Sündenbock gemacht haben für ihr eigenes Scheitern in Bosnien, Somalia oder Ruanda.

Wie wird sich die „Weltordnung“ entwickeln? Eine verlässliche Prognose ist kaum möglich, nicht einmal für die kommenden Jahre. Wird es gelingen, die zerstörerischen Kräfte der Globalisierung und des ungezügelten Shareholderkapitalismus durch eine – bislang nur vage angedachte – internationale Finanzordnung unter Kontrolle zu bekommen? Erwächst aus dem Pyrrhussieg der neoliberalen Ideologie und der tiefen Krise der Sozialdemokratie eine Neubesinnung auf Allgemeinwohl und gemeinsame (Über-)Lebensinteressen im nationalen wie im internationalen Maßstab?

War der Natokrieg im Kosovo das Muster für künftige Konfliktinterventionen, oder deutet sich mit der Mission in Osttimor bereits eine Neubelebung der UNO an? Sicher scheint nur so viel: Die künftige „Weltordnung“ wird weit mehr von den Entwicklungen in Asien – sei es in China, zwischen Indien und Pakistan oder in den zentralasiatischen Republiken der Exsowjetunion – bestimmt werden als von Europa. Es sei denn, Europa besinnt sich auf den Ausbau seiner politischen und ökonomischen Möglichkeiten innerhalb der UNO als Gegengewicht zu den USA. – In den Geschichtsbüchern des Jahres 2050 wird der Fall der Mauer möglicherweise nur noch als Fußnote auftauchen.

Andreas Zumach, 45, lebt als UN-Korrespondent der taz vorwiegend in Genf