: Sechzehn neue Gründe für den Ausstieg
■ Vertraulicher Bericht des Bundesamtes für Strahlenschutz: 16 Zwischenfälle in Brennelementefabrik und Zwischenlagern im Jahr 1998. Zusammengerechnet handelt es sich um drei Zwischenfälle pro Woche
Berlin (taz) – Im Jahr 1998 gab es in deutschen Anlagen der Kernbrennstoffversorgung und Zwischenlagern 16 meldepflichtige Zwischenfälle. Das meldete das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in einem vertraulichen Bericht vom Juni. Mehrere der Zwischenfälle ereigneten sich in der einzigen deutschen Brennelementefabrik in Lingen, bei einigen kam es zu geringen radioaktiven Kontaminationen. Zu den Ursachen zählte auch menschliches Versagen wie falsche Handhabungen und Bedienungsfehler.
Ein Sprecher des BfS bestätigte nach einem ersten Bericht der Bild die Zahlen. Alle Zwischenfälle in Atomanlagen seien seit 1993 meldepflichtig, bislang habe sich aber niemand für Zwischenfälle in Lagern und Brennelementefabriken interessiert, sondern lediglich für die in Reaktoren. Nach dem Unfall in der japanischen Brennelementefabrik in Tokaimura wolle man auch diese Zwischenfälle öffentlich machen. Auch den von Bild angeführten Bericht würde man in Kürze veröffentlichen (www.bfs.de).
Für Michaele Hustedt, energiepolitische Sprecherin der Bündnisgrünen, ist die Liste ein weiterer Beleg für die Gefahren, die von Atomanlagen jeder Art ausgehen. „Es gibt genug Beispiele, dass hier genauso absurde Dinge passieren wie in Tokaimura – manchmal ist es nur ganz knapp.“ Hermann Scheer, Alternativer Nobelpreisträger und SPD-Abgeordneter, sagte: „Tausendmal geht es gut, und beim tausendundersten nicht. Menschliches Versagen auszuschließen ist Rosstäuscherei.“ Bei den Zwischenfällen hat es sich laut Bericht durchgehend um Unfälle der Kategorie N gehandelt – „Ereignisse von untergeordneter sicherheitstechnischer Bedeutung“. 1998 gab es 142 Unfälle dieser Kategorie in Atomkraftwerken sowie vier der Kategorie E. Einschließlich den nun bekannt gewordenen sind das 162 Zwischenfälle – rund drei pro Woche. 23 Prozent wurden durch menschliches Versagen verursacht.
Dr. Hans-Uwe Siebert, Geschäftsführer der Firma Advanced Nuclear Fuels, die die Brennelementefabrik Lingen betreibt, blieb gelassen: „Wir haben allein dieses Jahr zehn solcher Meldungen gemacht, 1996 insgesamt 15. Dabei handelt es sich nicht um Unfälle, sondern um kurzfristige, lokal begrenzte Kontaminationen.“ Ein Unfall wie in Tokaimura sei eine „ganz andere Dimension“. Das BfS schließt in seinen Pressemitteilungen einen ähnlichen Unfall aus: „In einer deutschen Anlage besteht keine derartige Unfallmöglichkeit.“
Claus Alfes, Kreisgruppenleiter des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) im Emsland, sagte, man habe von diesen Zwischenfällen bis gestern nichts gewusst. Sie würden nicht wie die Zwischenfälle des AKW Lingen monatlich in der Zeitung aufgeführt. „Uns macht die Anhäufung der Atomanlagen hier in Lingen Angst – ein AKW, eine Fabrik und nun bald das Zwischenlager“, sagte er. Greenpeace-Atomexperte Veit Bürger meinte: „Diese Liste zeigt wieder: Sämtliche Atomanlagen sind anfällig – und haben, da sie mit radioaktivem Material arbeiten, das Potenzial, Arbeiter und Anwohner zu verstrahlen.“
Maike Rademaker
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