: Abgeordnete mit Freifahrtschein
■ Die Grünen sollen mehr Profil zeigen, aber mit Thesen, die im Programm stehen. Bärbel Höhn, NRW-Umweltministerin, über ein Jahr Rot-Grün
taz: Warum säuft das grüne Schiff gerade ab?
Bärbel Höhn: Die Niederlagen sind eindeutig auf Widersprüche in der Bundespolitik zurückzuführen. Da sind entscheidende Fehler gemacht worden.
Zum Beispiel sind einzelne Abgeordnete mit unausgewogenen Konzepten in die Öffentlichkeit gegangen, die keineswegs mit dem bisherigen Programm der Grünen übereinstimmen. Wenn Katrin Göring-Eckardt drei Tage vor der Kommunalwahl in NRW mit einem eigenen Rentenkonzept an die Öffentlichkeit tritt, fragen sich die Wähler: Was gilt jetzt? – und bleiben am Wahltag lieber zu Hause.
Aber ist nicht das grüne Programm tatsächlich teilweise problematisch?
Natürlich muss unser Programm den Veränderungen in der Gesellschaft angepasst werden, das ist keine Frage. Aber in einem gemeinsamen Diskussions- und Meinungsbildungsprozess und nicht dadurch, dass einzelne Abgeordnete meinen, sie hätten einen Freifahrtschein und könnten nun das, was ihnen am Wochenende gerade eingefallen ist, einfach mal in der Gegend herumposaunen. Das ist unprofessionell und muss abgestellt werden, weil es eine der Hauptursachen dafür ist, dass die Leute nicht mehr wissen, warum sie die Grünen wählen sollen.
Hat es nicht der grünen Glaubwürdigkeit enorm geschadet, vor der Wahl gegen Bundeswehreinsätze im Ausland einzutreten und nach der Wahl dem Krieg gegen Jugoslawien zuzustimmen?
Meine Position zu dieser Auseinandersetzung ist bekannt: Ich war für eine andere Politik. Wir haben in Bielefeld eine harte Auseinandersetzung um den Kosovo-Einsatz geführt. Ich verstehe, dass viele Parteimitglieder und Wählerinnen und Wähler wegen der grünen Zustimmung enttäuscht waren und sind.
Es war ein Fehler, dass wir in der Folgezeit zwar weiter intensiv an Konzepten für vorbeugend friedenserhaltende Maßnahmen gearbeitet haben, aber das nicht in der Öffentlichkeit darstellen konnten. Die Grünen sind weiterhin eine friedensbewegte Partei. Der Streit um die Lieferung von Leopard II an die Türkei zeigt das deutlich.
Wie könnten die Grünen ihren Abwärtstrend in der Koalition auf Bundesebene stoppen?
Man muss folgende Punkte beachten, wenn die Grünen in so einer Koalition bestehen wollen: Der erste ist eine klare inhaltliche Zielsetzung, der zweite ist die Geschlossenheit in den eigenen Reihen, und der dritte Punkt ist, zu kämpfen, so weit es eben geht. Am Ende wird man nicht immer seine Ziele hundertprozentig durchsetzen können. Aber bei allen Kompromissen muss erkennbar sein, dass man sich wirklich bis zum Ende eingesetzt hat. Das ist eine Erfahrung, die jeder machen muss. Und da lernen die Grünen in Berlin noch.
Viel dünne Luft sehe ich da aber vor allem bei den Sozialdemokraten. Ich nenne nur mal die Altautoverordnung. Dass ein Autokonzern über ein Gespräch beim Kanzler die EU-Politik bestimmen kann, ist ein Unding. Das darf nicht passieren.
Wie soll Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen den Mai nächsten Jahres überleben?
Wir werden keinen rot-grünen, sondern einen grünen Landtagswahlkampf führen. Wir verfolgen langfristige Ziele, die wir noch nicht erreichen konnten. Denn wir haben bisher mit der Umstrukturierung in NRW angefangen, aber sie ist noch nicht unumkehrbar. Damit meine ich unter anderem eine andere Verkehrspolitik, mehr Selbstbestimmung und Niveau in den Schulen und eine konsequente Verbraucherschutzpolitik.
Das wollen wir in der nächsten Legislaturperiode schaffen.
Interview: Pascal Beucker
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