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Liebe vor den Zeiten der Tschernobylgrippe

■ Georgische Literatur: Ost-West Beziehungen über und unter dem Eisernen Vorhang

Eine gewisse Liebe zum Lesen braucht man schon, um sich dem neuesten Werk des georgischen Autors Otar Tschiladse zu widmen. „In meinem Bericht steht die Erörterung vor dem Erleben, die Reflexion vor der Handlung.“ Wer sich aber auf seinen ausschweifenden Stil einlässt und die ersten 30 Seiten heil übersteht, wird belohnt: Mit einer Liebesgeschichte zwischen dem georgischen Dichter Awelum und der französischen Fremdenführerin Françoise.

Es ist keine einfache Beziehung. Er kann nicht heraus aus der Sowjetunion, sie hat kein Geld für häufige Reisen. Wenn sie mal in Moskau ist, wo sich die beiden treffen, leben sie in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Persönliche Beziehungen zu Westlern sind nicht angesagt. Die Geheimdienstler lesen den gesamten Briefwechsel, manche Briefe geben sie weiter, andere nicht. Awelum gilt aber nicht als gefährlich. Eher versucht die „Obrigkeit“ ihm zu helfen, von dieser sinnlosen Affäre wegzukommen.

Als Françoise schließlich sogar für zwei Jahre nach Moskau kommt, wird die Beziehung nicht einfacher. Alle wissen Bescheid, aber keiner darf etwas wissen. Das Problem liegt sowieso anderswo – in der menschlichen Freiheit, der Freiheit, sich zu entscheiden. In Wirklichkeit will Awelum sich gar nicht lösen, will gar nicht in den Westen, zu Françoise. Sie selbst möchte genauso wenig Georgierin werden, sie möchte „den Samen der Liebe von hier heraustragen, aus der moderigen Finsternis der Gefängnisverliese hinaus in die freie Welt“. Das gelingt ihr denn auch.

Der Roman ist aus der Rückschau geschreiben, aus dem Jahre 1989, als die „Tschernobylgrippen in der allerschönsten unter den Städten des Kaukasus wüten“. Sie sind Metapher für die neue Zeit, mit der sich Awelum auseinander setzen muss. Er bleibt Georgier.

Mit der sowjetischen Realität Georgiens einerseits und der Realität der Literatur andererseits beschäftigt sich Giwi Margwelaschwili. Er erzählt eine alte georgische Ballade über den Zweikampf zwischen dem Chevsuren Aluda und dem Kisten Muzal. Aluda tötet Muzal. So aber will es der Autor nicht. Die Figuren – sie sind allegorische Vertreter von West und Ost – lehnen sich gegen ihr Schicksal auf und beschließen, den Text umzugestalten. Wenn er nicht gerade gelesen wird, denn dann sind sie gefangen. Ihre einzige Chance ist, in einen Leserkopf hineinzugelangen. Nur der Leser kann den Text und damit die Realität ändern. Martin Hager

Otar Tschiladse: Awelum. Verlag Volk und Welt 1998, 500 S., 46 Mark Giwi Margwelaschwili: Muzal. Ein georgischer Roman. Insel Verlag, 1991, 486 S., 48 Mark

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