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Sprengkommando sorgt für Freistunde

■  61 Jahre nach der Reichspogromnacht steht an der einzigen jüdischen Oberschule in Deutschland demnächst der erste Jahrgang vor dem Abitur. Die deutsche Vergangenheit ist im Unterricht präsent. Und vor der Schule steht der Wachschutz

Die Jüdische Oberschule in der Großen Hamburger Straße in Mitte muss man nicht lange suchen: Vor dem Schultor schiebt eine Wachpolizistin ihren Streifendienst. Die Videokamera an der Eingangstür kündigt jeden Besucher dem Sicherheitsdienst an. Für Schüler und Lehrer an der einzigen jüdischen Oberschule in der Bundesrepublik ist die Kulisse längst Alltag geworden. „Die Sicherheitsmaßnahmen sehen wir gar nicht mehr“, sagt Direktor Uwe Mull.

Über die zahlreichen Unterrichtsveranstaltungen zum Gedenken an die Pogromnacht am 9. November 1938, dem Auftakt zur Vernichtung der europäischen Juden, spricht der Schulleiter nur zögerlich: „Alle erwarten von uns ein besonderes Programm. Dabei müssen doch eigentlich die anderen Schulen ein besonderes Programm haben.“

An der 1993 von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wieder gegründeten Schule ist die Geschichte ohnehin stets gegenwärtig. Die Großeltern vieler Schüler flohen vor den Nazis nach Südamerika oder Palästina, um schließlich in der Nachkriegszeit zurückzukehren; andere verließen wegen antisemitischer Verfolgung Stalins Sowjetunion. Heute kommt fast die Hälfte der Schüler aus den GUS-Staaten, was bisweilen zu Sprachproblemen führt.

Als Zusatzfächer werden das moderne, in Israel gesprochene Hebräisch und Jüdische Religionslehre unterrichtet. In der großen Pause wird koscheres Essen serviert, das meist noch aus dem Ausland importiert werden muss. Dennoch ist ein Drittel der Schüler nicht jüdisch, ganz in der Tradition von Moses Mendelssohn, der im 18.Jahrhundert die erste jüdische Schule Berlins gründete. Schon 1860 besuchten jüdische und deutsche Kinder in dem heutigen Gebäude die Schule. Kenntnisse über jüdische Kultur standen ebenso auf dem Lehrplan wie das nötige Wissen für die Moderne. Noch als die Nationalsozialisten die Juden in den Konzentrationslagern längst bestialisch ermordeten, fand hier Unterricht statt. In überfüllten Sälen: Anfang der 30er Jahre hatten viele jüdische Eltern ihre Kinder an die Schule geschickt, um sie vom Antisemitismus abzuschirmen. Ab 1935 verboten die Nazis den jüdischen Kindern den Besuch anderer Lehranstalten. Erst 1942 wurde das Schultor verriegelt; vom benachbarten jüdischen Altenheim aus deportierte die Gestapo von nun an 55.000 Juden vom Säugling bis zum Greis in die Todeslager Theresienstadt und Auschwitz.

Für die heute rund 250 Schüler wirkt diese Geschichte noch nach. Etwa, wenn der Unterricht ausfallen muss, weil wie kürzlich ein vor der Tür parkender Mercedes den Sicherheitsdienst in Alarm versetzte. Dann erteilte das anrückende Sprengkommando eine Stunde Anschauungsunterricht in Staatsbürgerkunde in Deutschland.

Im Juni wird der erste Jahrgang, der 1993 mit nur 30 Schülern angetreten war, die Abiturprüfung ablegen. Thomas, einer der Abiturienten aus dem Leistungskurs Politikwissenschaft, warnt davor, die Gefahr des Antisemitismus zu unterschätzen: „Die Rechten können ziemlich mobilisieren, vor allem im Osten“, sagt der Schüler, der jeden Morgen aus Treptow anreist. Als Kind nicht jüdischer Eltern habe er sich bewusst für den Besuch dieser Schule entschieden, um ein Zeichen für Toleranz zu setzen.

Noch oft, sagt er, treffe man auf Ressentiments: „Etwa, wenn ältere Verwandte sich darüber aufregen, dass auch Schwarze in der Bundesliga spielen dürfen.“

Andreas Spannbauer

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