: Tödliches Kinderkrankenhaus
Gedenktafel enthüllt. Ein bisschen spät, findet eine Betroffene ■ Von Gernot Knödler
„Wir sind jahrzehntelang belogen und betrogen worden“, schimpft Antje Kosemund. Erst 1983 hatte die Hamburgerin auf eigene Faust herausgefunden, dass ihre Schwester Ende des Krieges als angeblich „lebensunwert“ von den Nazis ermordet worden war. 13 Jahre alt war Irma Sperling, als sie sterben musste. Warum, ist ihrer Schwester heute noch nicht klar: Auf Fotos sahen sich die beiden ähnlich. „Wir hätten Zwillinge sein können“, sagt Antje.
56 der Jungen und Mädchen, die die Nazis im Rahmen ihres Kinder-Euthanasieprogramms töteten, starben im damaligen Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. Die Hamburger Gesundheitsverwaltung hatte sie in die dortige „Kinderfachabteilung“ eingewiesen. Die ÄrztInnen dort brachten sie um. Gestern, zum 61. Jahrestag der Reichspogromnacht, enthüllte Sozialsenatorin Karin Roth eine Gedenktafel an dem Gebäude, das seit 1986 das Hamburger Hygiene-Institut beherbergt. Letzter Satz auf der Tafel: „Keiner der Beteiligten wurde gerichtlich belangt.“
„Sie haben gewartet, bis der Letzte tot ist“, sagte Antje Kosemund am Rande der Enthüllungszeremonie. „Ich weiss seit mindestens 20 Jahren, dass hier getötet worden ist. Wenn man gewollt hätte, hätte man das erforschen können.“ Zufällig sei ein Personalratsmitglied des Hygiene-Instituts in einem historischen Stadtführer auf die mörderische Geschichte des ehemaligen Kinderkrankenhauses aufmerksam geworden, sagte Personalrätin Margot Schröder.
Die MitarbeiterInnen der Gesundheitsbehörde stehen in einem schweren Erbe. Denn ein Referat aus der Feder des pensionierten Staatsanwalts Dietrich Kuhlbrodt zeigte die Banalität des Bösen im damaligen Gesundheitsapparat. „Kindereuthanasie beruhte auf geordnetem Verwaltungshandeln“, schreibt der Staatsanwalt.
Mehr noch: Die Hamburger Behörde bemühte sich, die reichsweiten Vorgaben noch zu übertreffen. Rational kalkulierend erkannten die Beamten, dass sie Geld sparen konnten, indem sie keine angeblich „Minderwertigen“ mehr durchfütterten. Kühl stellt Kuhlbrodt fest: „Die Hamburger Verwaltung wurden von den Nazis nicht missbraucht, sie brauchte die Nazis.“
Denn was deutsche Ärzte Menschen mit angeblich minderwertigem Erbgut antaten, begann nach den Erkenntnissen Kuhlbrodts nicht erst 1933 – und es endete auch nicht 1945. Der Gedanke der Rassenhygiene hatte sich seit Beginn des Jahrhunderts in der Ärzteschaft festgesetzt und noch nach '45 wurden psychisch Kranke schlechter ernährt als andere Kranke.
Heute macht die vorgeburtliche Diagnostik das Thema aktuell. Wie Sonja Deuter (GAL) der taz hamburg sagte, bereiten GAL und SPD in der Bürgerschaft einen Antrag vor, mit dem sie ein neues Beratungsangebot schaffen wollen: Werdende Eltern soll es darüber informieren, vor welch fatale Entscheidungen sie eine pränatale Diagnose stellen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen