piwik no script img

Ein schwarzes Schaf unter Göttern in Weiß

■ Ein morphiumsüchtiger Arzt ist als Erster von 77 Kollegen wegen Betrugs vor Gericht

Das Boulevard-Blatt Bild nannte den Arzt „Doktor Gierig“, weil er eine Krankenkasse um viel Geld geprellt haben soll. Als Tatmotiv kommt aber auch Drogensucht mit ins Spiel. Vor dem Landgericht muss sich der Berliner Mediziner seit gestern wegen Abrechnungsbetruges verantworten. Die Schadenshöhe beläuft sich laut Staatsanwaltschaft auf 800.000 Mark.

Der Prozess ist der erste in einer Reihe von Verfahren, die auf die Ermittlungstätigkeit der 1997 beim Landeskriminalamt eingerichteten Sondergruppe „Medicus“ zurückgeht. Insgesamt ermittelt Medicus gegen 77 Berliner Ärzte.

Dem 49-jährigen Allgemeinmediziner Gerd H. wird vorgeworfen, zwischen März 1995 und Dezember 1998 in 275 Fällen Leistungen gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung falsch abgerechnet sowie Medikamente wider besseres Wissen als Praxisbedarf ausgegeben zu haben. Vordergründig wirkte der Angeklagte, ein feingliedriger Mann von gepflegtem Äußeren, gefasst. Aber seine unruhigen Hände verrieten die innere Anspannung.

Die ihm vorgeworfenen Vergehen gab er „zu 80 Prozent“ zu. Nur so habe er seine langjährige Drogenabhängigkeit finanzieren können. Nach einem Verkehrsunfall, bei dem er sich insgesamt 23 Brüche an beiden Füßen zugezogen habe, sei er morphiumabhängig geworden.

An das Morphium zu gelangen war für den Arzt kein Problem. Nach eigenen Angaben versorgte er in seiner Praxis im Europa-Center viele schwer kranke Krebs- und HIV-Patienten und hatte von der Kassenärztlichen Vereinigung eine Ausnahmegenehmigung zum Verschreiben besonderer Medikamente bekommen. In der Anklageschrift ist die Rede von 90.000 Ampullen Morphium, die Gerd H. zwischen 1995 und 1998 gegenüber der AOK als Praxisbedarf abrechnete. In Wirklichkeit aber habe er sich das Morphium selbst gespritzt, sagte Gerd H. Als ihm die Kassenärztliche Vereinigung und die Polizei Ende 1998 auf die Schliche kamen, hatte er sich, wie er selbst sagte, alle zwei Stunden 1,4 Gramm Morphium verabreicht.

Der Anwalt von Gerd H. machte für seinen Mandanten vor Gericht geltend, dass der Fall wegen dessen Suchtkrankheit ein „Einzelfall“ sei. Der Leiter der Ermittlungsgruppe Medicus, Jörg Engelhard, wollte dies gegenüber der taz nicht kommentieren. „Hinter jeder Tat steckt ein Einzelfall“, spielte Engelhard ironisch auf die übrigen 77 Ermittlungsverfahren gegen Berliner Ärzte an.

Aus welchen Motiven auch immer Ärzte falsch abrechnen, für Engelhard sind sie fast noch schlimmere Betrüger als der Trickdieb, der die Oma an der Haustür hintergeht: Bei Ärzten komme verschärfend hinzu, „dass ihnen ein besonders hohes Maß an Vertrauen entgegengebracht werde und sie nur schwer zu kontrollieren seien“. Plutonia Plarre

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen