: Ein Taxi wollen wir nicht sein“
Seit Anfang November fährt der Kältebus der Stadtmission wieder Nacht für Nacht durch Berlin: Die MitarbeiterInnen lesen Obdachlose an Bahnhöfen auf und bringen sie in Notunterkünfte, um sie vor dem Erfrieren zu retten ■ Von Sabine am Orde
„Da hinten sitzt Kalle*“, sagt Stephan Junge und zeigt auf eine Bank in der Mitte des U-Bahnhofs. Kalle, ein dicker Mann mit hoch rotem Gesicht und fettigen Haaren, hat in der einen Hand einen Stock, in der anderen eine Schnapsflasche. Neben ihm hockt ein kleiner, schmächtiger Typ in Jeans und Daunenjacke. „Guten Abend zusammen“, sagt Stephan Junge, als er gemeinsam mit seiner Kollegin von der Berliner Stadtmission (SM) an der Bank ankommt. Dann wendet er sich Kalles Nachbar zu: „Wir sind vom Kältebus, brauchen Sie noch ein Quartier für heute Nacht? Wenn Sie wollen, bringen wir Sie in eine Übernachtungseinrichtung.“
Kalle, der seit 23 Jahren auf der Straße lebt und häufig am Bahnhof Zoo anzutreffen ist, braucht Junge das nicht mehr zu erzählen. Ihn kennt der 28-jährige Theologe schon aus den Jahren, als er noch als Ehrenamtlicher für die Stadtmission tätig war. Jetzt fährt Junge von Anfang November bis Ende März mit einem wechselnden Beifahrer Nacht für Nacht Orte in der Stadt an, an denen sich Obdachlose aufhalten. Die, die wollen, bringt er in eine der Notübernachtungen der Stadt. So sollen Wohnungslose vor dem Erfrieren bewahrt werden. Freitag und Samstag hat Junge frei. „Da fahren zwei U-Bahnlinien ja durch, da ist der Bus nicht notwendig.“
Seit kurz nach acht ist der Bus unterwegs. Erste Station war der Busbahnhof am ICC. Heute Nacht sollen es fünf Grad minus werden. Hier gibt es beheizte Klos“, sagt Junge, während er den VW-Bus in eine Parklücke manövriert. Die Frauentoilette ist leer, auf dem Männerklo hat sich ein Mann mit Decke und Schlafsack für die Nacht eingerichtet. „Mit mehreren Leuten in einem Zimmer schlafen, das halt' ich nicht aus“, sagt er. Im Warteraum geht ein Mann in abgewetzten Klamotten auf und ab. Annette Döbbeling, Junges Beifahrerin, läuft einmal an ihm vorbei, dann spricht sie ihn an. „Ich hab eine Wohnung“, sagt der Mann nervös und fingert in seiner Hosentasche. „Ich kann Ihnen den Schlüssel zeigen.“ – „Das brauchen Sie nicht“, sagt Döbbeling und geht.
Auf den U-Bahnhöfen Berliner und Güntzelstraße trifft das Busteam niemanden an. Kurz darauf ist es am Zoo. Kalle lacht polternd. „In Berlin ist nur Harald Juhnke ein größerer Alkoholiker als ich“, amüsiert er sich. Er will in keine Notübernachtung, zumindest jetzt noch nicht. „Erst fahre ich zur Güntzelstraße“, sagt er. Dort ist eine Tankstelle, an der man die ganze Nacht über einkaufen kann. Sein Banknachbar guckt unsicher. „Kann der mit?“, fragt er und zeigt auf den kleinen Mischling, der neben seinen Beinen hockt. „Das ist kein Problem“, antwortet die Kältebus-Mitarbeiterin. „Wir bringen sie in die Seydlitzstraße, da können Tiere mit.“ Der Mann guckt ungläubig. Er kennt die Regeln der meisten Notübernachtungen: Wer Tiere mitbringt, zu betrunken ist oder Läuse hat, wird nicht aufgenommen. Das hält viele der Obdachlosen ab, eine Notübernachtung aufzusuchen.
Vor dem Bahnhof warten sechs alte Männer. „Wir würden gerne mitfahren“, sagt einer von ihnen. „Gestern hat es ja leider nicht geklappt.“ Gestern war der Bus schon voll, als er gekommen ist. „Wir sind kein Taxi“, betont Junge. Später sagt er: „Die Leute sollen ja schließlich selbst aktiv werden.“ Langsam klettern die Männer in den Bus, Döbbeling zückt das Handy. „Hier ist der Kältebus, wir würden euch gerne sechs Männer bringen.“ Noch ist Platz in der Notübernachtung der SM in Moabit. Doch schon um kurz nach elf sind die 60 Plätze in den Feldbetten und dem großen Schlafsaal, in dem Isomatte neben Isomatte liegt, besetzt. Wer jetzt noch kommt, hat Pech gehabt. Nur für den Kältebus sind noch einige Plätze reserviert. Wenn auch die voll sind, muss das Busteam per Telefon in anderen Einrichtungen freie Plätze auftreiben.
„Wir müssen jetzt zum Leopoldplatz“, sagt Junge, als er sich nach der Kaffeepause wieder hinter sein Steuer schwingt. „Ich habe gestern Richie, dem Polen, versprochen, um zwölf da zu sein und ihm Material über Wohneinrichtungen mitzubringen.“ Doch Richie erzählt dem Busfahrer dieselbe Geschichte von Schmerzen im Bein, die dieser schon am Tag zuvor gehört hat. „Der braucht jemand zum Ausquatschen“, sagt Döbbeling, als sie wieder ins Auto steigt. „Wir müssen uns beeilen, jetzt fahren die letzten U-Bahnen.“
Doch am U-Bahnhof Kurfürstendamm ist schon niemand mehr. Vor dem Bahnhof Zoo steht Kalle auf seinen Stock gestützt und schwankt. Vier andere Männer warten bereits auf den Bus. „Wir haben gehofft, dass ihr noch mal kommt“, sagt einer. Auch Kalle will diesmal mit. Dann kommt eine Frau in blauer Uniform vom Wachschutz der Bahn auf Junge zu. „Drinnen ist noch jemand für Sie.“
Döbbeling geht zu dem Mann, der versteckt in einer Ecke sitzt. „In die Seydlitzstraße haben Sie mich schon mal gebracht“, sagt er. Da habe einer Streit um ein Bett angefangen. „Ich konnte nur nachgeben oder hätte mich prügeln müssen, das will ich nicht“, sagt der Mann und bleibt am Zoo. „Wir zwingen niemanden“, sagt Junge und steigt in den Bus. Als der zwei Stunden später wieder am Bahnhof Zoo hält, ist dort nur noch das Wachpersonal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen