In der Sache Wroblewsky gegen Nacke

Sie sollte froh und zufrieden sein, dass sie, die Polin, in Kriegszeiten auf einem deutschen Gut schaffen durfte – zumindest, wenn es nach Graf Lambsdorff geht. Doch Janina Wroblewsky klagt auf Entschädigung für 36 Monate Zwangsarbeit – gegen ihren Nachbarn  ■   Aus Bad Salzuflen Jens Rübsam

An schönen Novembertagen kann man am Wiesenrand der Bauernschaft Ehrsen-Breden, an der Ecke Weidenstraße/Lohhofstraße, ein stattliches Gut in der Sonne sehen. Geräumige Ställe, aus einem Verschlag lugt ein weißer Gaul; Speicher- und Verwalterhaus, erdverbunden restauriert, dahinter grasen wollige Schafe; dazwischen, schimmernd im letzten Herbstlicht, ein imposantes Herrenhaus, so stolz aufgerichtet wie der Dom zu Köln – aus diesem Blickwinkel: der Hof des lippischen Landwirts Albrecht Nacke, nachgerade ein ländliches Idyll.

An diesem schönen Novembersonntag steht eine alte Dame am Tor des Hofes. „Da hinten“, sagt sie, „da war der Eingang zum Keller, da unten haben wir gegessen.“ – „Da“, sagt sie, „da ist der Schuppen, da hat der Verwalter des Hofes versucht, mich an der Brust zu packen.“ – „Da“, sagt sie, „da ist der Teich, da mussten wir in eisiger Kälte Zuckerrüben schrubben“. Aus dem Blickwinkel der polnischen Zwangsarbeiterin Janina Wroblewsky, 75: der Hof der lippischen Landwirtsfamilie Nacke, nachgerade ein Ort mit hässlichen Flecken.

Wer die Bauernschaft Ehrsen-Breden, heute ein Ortsteil von Bad Salzuflen, besucht, dringt ein. Wer hier Fragen stellt, stört. Wer mit Albrecht Nacke spricht, sieht einen Landwirt in Zorn geraten. Zwangsarbeiter? „Es sind keine Unterlagen mehr vorhanden. Ich weiß nicht, ob es hier polnische Zwangsarbeiter gab.“ Pferdewirtschaftsmeister Nacke ist Jahrgang 50 und will „von nichts“ wissen. Nackes Mutter ist Jahrgang 20 und „kann keine Stellung beziehen“. Nackes Großmutter, während des Krieges Inhaberin des Hofes, ist schon lange tot.

„Man kann davon ausgehen“, sagt der Bad Salzufler Stadtarchivar Franz Meyer, „dass auf allen mittleren und größeren Höfen im Deutschen Reich Zwangsarbeiter beschäftigt waren.“ Der Nacke-Hof gehörte zu den größeren im Lipper Land, im „Polizeilichen An- und Abmeldebuch“ der Gemeinde Ehrsen-Breden (1939 bis 1944) ist er zu finden unter Nummer 2, was ein Hinweis ist auf die Ansehnlichkeit des Hofes. Unter K ist im Meldebuch der Eintrag zu lesen: Kopec, Janina, Landarbeiterin, Geburtsjahr: 1924, Staatsangehörigkeit: Polen, zugezogen am 9. Mai '43, angemeldet bei Hausnummer 2. „Aus den Unterlagen geht eindeutig hervor“, sagt Archivar Meyer, „dass auf dem Hof Nacke polnische Landarbeiter beschäftigt waren.“ Zwangsarbeiter.

Eines der merkwürdigsten Phänomene in der gegenwärtigen Entschädigungsdebatte ist das Ausklammern der Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft. Entschädigt werden soll, wer in Fabriken Granaten und Autos montierte. Wer auf Gutshöfen diente und auf Feldern ackerte, der soll „froh“ und „zufrieden“ sein über sein Schicksal. Der Beauftragte der Bundesregierung, Otto Graf Lambsdorff, sieht sich berufen kundzutun, dass das Los von Zwangsarbeitern in der Landwirtschaft nicht mit denen in Konzentrationslagern und Gettos vergleichbar war und deshalb eine Entschädigung für sie nicht in Frage kommt“. Landwirte verschwören sich zu der Aussage: „Denen ging es doch gut. Die bekamen zu essen und durften am Tisch der Familie sitzen.“ Und Bauernverbandsfunktionäre deuten die Geschichte auf ihre Weise: „Die Ersatzarbeitskräfte sind den Bauern im Rahmen der Kriegswirtschaft schlicht und einfach zugeteilt worden.“

Die Historiker sind sich vor allem in einem einig: Keiner der Ostarbeiter kam freiwillig ins Deutsche Reich, sie wurden deportiert, verschleppt, insgesamt weit über sieben Millionen. Auch die Landwirte haben sich bereichert. Und nicht zuletzt: Zwangsarbeit war und ist ein völkerrechtliches Verbrechen.

Bei seinen Forschungen in einer bayerischen Gemeinde stößt der Münchner Historiker Tobias Weger auf „objektive Unterschiede zwischen der Arbeit in einer Fabrik und der Arbeit auf einem Bauernhof“: Landwirte verhalten sich zu den Fremdarbeitern wie zu ihren Mägden und Knechten. Fremdarbeiter bekommen dieselben Mahlzeiten wie die Bauersfamilie. Bauern leihen Fahrräder an Landarbeiter aus und lassen sie zu Bekannten in die Nachbardörfer ziehen. Die Frankfurter Historikerin Gabriele Freitag dagegen findet bei ihren Untersuchungen im Lipper Land heraus, dass „die bäuerlichen Arbeitgeber die von der Partei propagierte rassische Diskriminierung der ,slawischen Untermenschen' akzeptierten und sich der polizeilichen Strafinstrumentarien zur ,Disziplinierung' der polnischen und sowjetischen Arbeitskräfte bedienten“.

So groß die Distanz zwischen Bayern und Ostwestfalen-Lippe, so different auch die Lage der landwirtschaftlichen Zwangsarbeiter. Hier ein Brocken Fleisch in der Suppe, da nur ein paar Gramm Fett. Hier familiäres Miteinander, da das Eintreiben der deutschen Sprache mit der Schaufel. Hier die Verbundenheit durch die Religion, da gewaltsame Abtreibung.

Wer heute mit Janina Wroblewsky, gehüllt in eine feste Winterjacke und auf dem Kopf eine lustige blaue Mütze, um den „Nacke-Hof“ in Ehrsen-Breden spaziert, sieht sich plötzlich an der Seite von Janka, einem hübschen polnischen Mädchen von 19 Jahren, um den Leib ein paar Lumpen, auf der rechten Brustseite ein Quadrat: ein violettes P auf gelbem Grund, umrahmt in violett, und an den Füßen ausgetretene Schuhe. Es ist Frühjahr 43. Aber es kann auch Winter 43 sein. Oder Sommer 44. Oder Frühjahr 45. Zeit hat in Kriegszeiten den Wert von Falschgeld. Jahreszeiten haben nur die Bedeutung, ob gerade Roggen ausgesät oder Heu gewendet werden muss. Und von Ehrsen-Breden, diesem Dorf hinter Salzuflen, weiß Janina Kopec nur, dass es irgendwo weit weg liegt von ihrem Heimatdorf Bagenica. Das liegt gute 100 Kilometer hinter Krakau. Da sagt man „tak“ und nicht „ja“, „nje“ und nicht „nein“.

Aber Ehrsen-Breden liegt nicht irgendwo, sondern im Lipper Land, in der „Provinz unterm Hakenkreuz“, in einem Freistaat, in dem die NSDAP schon bei der Landtagswahl 1933 knapp 40 Prozent der Stimmen erhält. „Durchbruchsschlacht am Teutoburger Wald“ jubelt Arno Schröder, Pressewart des NSDAP-Gaus Westfalen-Nord.Wer hier das Sagen hat, ist schon 1935 klar: die Nationalsozialisten.

Und die kümmern sich emsig um ihre Bauern: Sie preisen „Blut und Boden“, propagieren die gesellschaftliche Unersetzlichkeit des bäuerlichen Standes, rufen zur „Erzeugungsschlacht“ auf und erlassen Regeln für die Zwangsarbeiter: kein Verlassen der Ortschaft, kein Gastwirtschaftsbesuch, der geschlechtliche Kontakt zwischen „Fremdvölkischen“ und Deutschen ist ein „GV-Verbrechen“ – und wird geahndet mit Todesstrafe für die „Fremdvölkischen“ und Konzentrationslager für die Deutschen.

Am Nachmittag des 28. Juli 1941 wird in der Bauernschaft Ehrsen-Breden der polnische Landarbeiter Stefan Bolewski hingerichtet, wegen eines Liebesverhältnisses zu einer „deutschblütigen Frau“. Eine Fahrzeugkolone passiert an diesem Tag das Dorf – vorbei am Haus des Tischlermeisters Schürig, der Sarg und Galgen anzufertigen hatte, und vorbei am Gutshof Nacke. Über Feldwege kriechen die Autos weiter hinauf zum Steinbruch, wo die Einheimischen unter reger Anteilnahme den 29-Jährigen alsbald am Strang wippen sehen. Als Stadtarchivar Franz Meyer diesem Vorfall Jahre später nachgehen und Zeitzeugen befragen will, bekommt er von vielen aus Ehrsen-Breden zu hören: „Davon will doch heute niemand mehr was wissen.“ Mutter Nacke gibt sich ihm gegenüber knapp: „Ich habe nichts gesehen“.

Janina, die junge Polin, die in einem weißen, flockigen Pünktchenkleid an einem warmen Sonntagnachmittag im Mai 1943 um halb vier dem Transport am Bahnhof Schötmar entsteigt und einer Freundin zum Gutshof Nacke folgt, wird noch oft von der Hinrichtung des Stefan Bolewski hören. Was sich in ihr einfräst, sind die Tipps der anderen Fremdarbeiter: Stets lammfromm sein, stets den Worten des Verwalters folgen, stets fleißig anpacken, von morgens halb sieben bis abends neun Uhr, 74 Stunden die Woche – arbeiten, egal ob ihr „nach den Tagen“ der Unterleib schmerzt oder die Hand, die sie sich beim Holzhacken verletzt; arbeiten für 20 Reichsmark im Monat, für 60 Prozent dessen, was ein Hilfsarbeiter deutscher Abstammung erhielt. Ein Gespannführer wurde am Monatsende schon mal mit 100 Reichsmark entlohnt.

Verwalter Lesemann ist ein strenger Herr, der morgens nach der Hafersuppe im Pferdestall schreiend die Arbeit verteilt: „Dalli! Dalli! Raboti! Raboti!“. Die einen müssen auf die Felder laufen, die anderen die Gäule führen. Die einen müssen Kühe melken, die anderen die Futterrüben-Reihen ausharken. Die einen müssen Mist aufladen, die anderen das Korn dreschen. Zwei Scheiben Butterbrot gibt es zur Hand, eine für den Vormittag, eine für den Nachmittag. Zwischendrin das Mittagessen, meistens Eintopf. Und abends das, was mittags stehenblieb. Danach waren vier Körbe Kartoffeln zu schälen, und dann war es Zeit, sich schlafen zu legen. Und wenn sich Janina Kopec, die alle auf dem Hof nur Janka nennen, abends noch auf dem Weg zum Briefkasten macht, gilt es darauf zu achten, das P an der Brust zu haben und „nicht den Nazis zu begegnen“.

Es folgen die Samstage, die wie Wochentage sind: „Dalli! Dalli! Raboti! Raboti!“ Janka hat den Hof zu fegen, „stellen Sie sich vor, den ganzen Hof!“ Sonntags sind die Milchkannen zu säubern, „stellen Sie sich vor, 60 Milchkannen!“ Verwalter Lesemann führt alle Tage das Wort: „Ihr sollt nicht faulenzen“, schreit er, das ist noch zu ertragen. „Sonst kommt ihr in die Munitionsfabrik oder ins Konzentrationslager“, tobt er, das ist nicht mehr zu ertragen. „Es gab viele Fälle“, sagt Stadtarchivar Meyer, „wo Bauern ihre ideologische Verbrämung ausgelebt haben, ihren Herrenstatus“.

Sie haben ihre Merkblätter. In einem, vom Arbeitsamt Detmold, heißt es: „Jeder Bauer wird persönlich dafür verantwortlich gemacht, dass die volkspolnischen Arbeitskräfte sich nicht herumtreiben, da solche Personen in jeder Hinsicht eine Gefahr für die Öffentlichkeit bedeuten.“ Sie haben ihre Feiern im nahen Bad Salzuflen. Am 7. Februar 1944 beendet der SA-Standartenführer Prinz zu Schaumburg-Lippe eine Kundgebung mit den Worten: „Wir kämpfen mit dem besten Volk, wir kämpfen mit dem besten Führer! Da kann keiner gegen uns siegen!“ Ein Jahr später zitiert das NSDAP-Organ „Lippischer Staatsanzeiger“ den Reichskanzler Hitler: „In diesem Kampf wird die deutsche Nation siegen.“ Drei Monate später wirft Janina Kopec den Spaten aufs Feld: „So, jetzt kannst du weiterarbeiten“, zischt sie Verwalter Lesemann an. Anfang April 1945 marschieren die Amerikaner in Bad Salzuflen ein.

Wer Janina Wroblewsky in diesen Tagen im Salzufler Ortsteil Schötmar besucht – vom Nacke-Hof in Ehrsen-Breden bis zu ihrer Wohnung ist es nicht weiter als eine Taxikurzstrecke –, der trifft auf eine bescheidene Dame, die Rührkuchen und Schmalzstullen anbietet, die ständig Bilder sieht, wenn sie sich erinnert – auch schöne Bilder. Die von einer freundlichen Gutsherrin, „die alte Frau Nacke war immer gut zu uns“. Die von Jupp, einem Volksdeutschen, dem Knecht auf dem Nacke-Hof, dem sie anfangs nur zaghaft ihre Zuneigung zeigt, mehr ist einer „Fremdvölkischen“ nicht erlaubt.

Im Sommer '45 heiratet Janina Kopec Josef Wroblewsky. Sie bleiben in Deutschland. Sie wohnen noch 24 Jahre in Ehrsen-Breden. Sie verhalten sich „ruhig und anständig“ und ziehen drei Mädchen groß. Sie tragen niemandem etwas nach. Sie sagen sich: „Vergessen wir's. Wir wollen gesund bleiben.“ Und doch bleiben sie „die Polacken“ im Dorf.

Längst ist es ein eisiger Novemberabend geworden, als Janina Wroblewsky sagt: „Er hat ja auch nicht schuld.“ Er, das ist der Landwirt Albrecht Nacke, geboren nach dem Krieg, Erbe des Hofes, Beklagter im Rechtsstreit Wroblewsky – Nacke. Weil „die Arbeit so schwer war“ und weil es „um meine Würde“ geht und weil der „Bundeskanzler im Fernsehen sagte: ,Alle Zwangsarbeiter werden entschädigt'“, darum klagt sie. Die Summe, die ihr Rechtsanwalt addiert hat, beläuft sich auf 39.000 Mark: 1.000 Mark Schmerzensgeld pro geleisteten Monat Zwangsarbeit, plus 3.000 Mark Lohnachzahlung. Die Gegenseite lässt wissen: „Es wird mit Nichtwissen bestritten, dass die Klägerin [...] auf dem Hofe Nacke [...] beschäftigt war.“ Ein Historiker meint: „Wenn es human auf dem Hof abgegangen wäre, dann würde der Landwirt reden.“

Eine Stiftungsinitiative – ähnlich der Industrie – lehnen Vertreter des Bauernverbandes ab: „Fassen Sie mal einem Bauern heute in die Tasche!“ Albrecht Nacke wehrt sich gegen eine „geschichtliche Aufarbeitung mit Mitteln des Rechtsstaates“. Ein Verbandsfunktionär, der vorgibt, den Fall gut zu kennen, steht ihm zur Seite: „Da sieht eine Frau, dass ein Hof wirtschaftlich gut dasteht. Aber die Basis dafür hat sie doch nicht mit ihrer Zwangsarbeit gelegt.“

„Meinen Sie“, fragt Janina Wroblewsky zum Abschied besorgt, „meinen Sie, ich mache das mit der Klage richtig?“