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Die letzte Bastion der Kernis

Fachhochschule Jülich, Fachbereich Kerntechnik: GAU, atomare Katastrophe und radioaktive Verseuchung verpuffen in physikalischer Erklärungseuphorie. Und fünf Studenten wollen den Atomausstieg überleben    ■ Von Annette Kanis

Die Kernenergie ist nicht totgesagt. Auch wenn Deutschland aussteigt, im Ausland gibt es bestimmt noch Arbeit.“

Wer dieses Studienfach belegt, hat den ungeschriebenen Numerus clausus verinnerlicht: Selbstbewusstsein und Argumentationsstärke. Wer Kerntechnik studiert, sieht sich im ständigen Rechtfertigungszwang. Denn Leute, die Atomenergie statt Kernkraft sagen und AKW statt Reaktor, sind nicht fern. Sie sitzen den Studenten der Fachhochschule Jülich an Küchentischen gegenüber, begegnen ihnen in Treppenhäusern und auf Partys – und nennen sie einfach nur „die Kernis“.

„Meine Freundin war schon öfters auf Anti-Castor-Demos.“ Daniel Münchrat, 24, löst belustigtes Mitleid bei seinen Mitstudenten aus. Sie alle kennen diese Diskussionen um Sinn, Nutzen, Risiken und Ausstieg, die verbalen Angriffe von Atomkraftgegnern, das Unverständnis für ihre Lerninhalte.

„Da kommt ja der Strahlende.“ So wird Thomas Schubert öfters mal genannt. „Gesunden Respekt vor Radioaktivität habe ich schon, wie eben auch vor Strom.“ Angst ist Thomas Schubert zu irrational. Später würde er gern im Brennelementewerk Lingen arbeiten. Ein Praktikum hat er dort schon gemacht.

Worte wie GAU, atomare Katastrophe oder radioaktive Verseuchung schrumpfen hier, an der Fachhochschule Jülich, angesichts wissenschaftlicher Überzeugungskraft. Verpuffen in der Umgebung von Kontrollierbarkeit und physikalischer Erklärungseuphorie. Die „Kernis“ haben gelernt, ihre Argumente variabel auszbauen: dass Deutschlands Kernkraftwerke zu den „sichersten weltweit“ zählen; dass fossile Brennstoffe „umweltfeindlich“ sind; und dass die regenerative Energiegewinnung „noch nicht ausreicht“.

„Noch hört meine Freundin mir zu.“ Daniel Münchrat, der mit seinem verwaschenen Kapuzen-Sweatshirt, den Jeans und kurzen Haaren auf keiner Demo auffallen würde, ist zuversichtlich, was die privaten Diskussionen angeht – und auch, was seine Zukunft betrifft. „Die Kernenergie ist noch lange nicht totgesagt. Und auch wenn Deutschland aussteigt, im Ausland gibt es bestimmt noch genügend Arbeitsmöglichkeiten.“ Sein Zukunftsszenario: Erst in Deutschland ein Kraftwerk abbauen, dann im Ausland wieder eines errichten. Und im Ausland, egal wo, würde er sowieso am liebsten arbeiten.

Noch hat Daniel Münchrat einige Semester in Jülich vor sich. In Jülich, in dieser kleinen Stadt nahe der belgischen Grenze, kurz vor Aachen, im tiefen deutschen Westen. Neben der FH steht die Zuckerrübenfabrik.

Auch wenn Daniel und seine Mitstudenten den viel diskutierten Ausstieg aus der Kernkraft nicht befürworten, Angst um berufliche Perspektiven macht er ihnen keineswegs. Die Jülicher Studenten sind eine kleine Bastion – „mit großen Aufgaben“, wie sie hoffen.

Die Altersstruktur der Fachkräfte im Bereich Kerntechnik liegt mittlerweile um die 60 Jahre – ein Generationenwechsel steht bevor. So sieht es Professor Jörg Schwager, Dekan des Fachbereichs. Sein weißes Haar rückt ihn in die große Gruppe derer, die in den aufstrebenden Zeiten der Kernkraft dabei waren. Jetzt sieht er angesichts der schwindenden Studentenzahlen dem heimlichen Ausstieg aus der Atomenergie gelassen entgegen.

Bundesweit halten sich die Zahlen in überschaubarem Rahmen. Zehn Kerntechnikstudenten sind laut Statistischem Bundesamt an deutschen Hochschulen eingeschrieben, noch mal etwa fünfzehn haben die Studienrichtung an einer Fachhochschule gewählt. „Wenn man die Studentenzahlen anschaut, müsste man das Fach eigentlich einschlafen lassen“, sagt Schwager. Seine Stimmung schwankt zwischen Zynismus und Ironie, wenn er ergänzt: „Dann können wir in einigen Jahren kompetente Leute aus Japan holen; ob das aber der richtige Weg ist?“

Ob nun Ausstieg sofort oder später, bis dahin bleibt die Wartung der Anlagen und der gesicherte Abbau. Allein für Letzteres musste jeder Betreiber per Gesetz etwa eine Milliarde Mark auf die hohe Kante legen. Was auch bis auf weiteres bleibt, ist der radioaktive Abfall.

Mit dem hat Gregor Heufer zu tun. Sein Kerntechnik-Diplom hat er vor einem Jahr in Jülich gemacht, jetzt arbeitet er bei der Siemens Kraftwerksunion, Bereich Nukleartechnik. Dort sorgt er mit dafür, dass verstrahlter Metallschrott aus Brunsbüttel zerlegt und bearbeitet wird, so dass am Ende ein Zehntel der Ausgangsmasse zur Endlagerung kommt.

Für eine Woche ist Heufer zurückgekehrt nach Jülich. Sein Arbeitgeber verlangt einen Zusatzkurs im Bereich Strahlenschutz. Wenn er nun durch die leeren FH-Flure geht, erinnert er sich „gern“ an seine Studienzeit zurück. Der angeschmutzte Plattenbau, der graue Linoleumboden, das übersatte Dunkelbraun der Metalltüren, die „unbefugten Zutritt“ verbietenden Warnschilder mit der Aufschrift „Radioaktive Strahlung!“ werden zum Studierparadies. „Ich würde jeder Zeit wieder hier Kerntechnik studieren.“ Heufers Überzeugung nährt sich aus den Vorlesungen im Büro des Professors, wo an einem Tisch mit sechs Personen anders gelehrt wird als im Hörsaal vor 600 Studierenden. Nährt sich daraus, dass Sprechstundentermine unnötig werden, wenn man mit den Profs in der Mensa zu Mittag isst. Nährt sich aus den Studienfahrten nach Mülheim-Kärlich in das dortige lahm liegende AKW, nach Prag zu einem im Bau befindlichen Kraftwerk und nach North Carolina in ein Forschungszentrum; aus den persönlichen und forschungsorientierten Studienbedingungen. Und aus der Faszination, die die Kerntechnik auf ihn ausübt.

Damit hat es Gregor Heufer, erst 25 Jahre jung, in seiner Familie nicht leicht. „Meine Mutter wählt grün“, sagt er entschuldigend und rückt sich die feinrandige Metallbrille zurecht. Für seinen Berufswunsch in der Reaktorbauentwicklung hat Mutter Heufer kein Verständnis. Doch mit der Verwirklichung des Berufswunsches sieht es sowieso düster aus. „Wegen der Ausstiegsdiskussion und des allgemeinen Sparzwangs wird in der deutschen Kerntechnik nicht mehr in die Zukunft investiert.“

Professor Friedrich Hoyler, Kernphysiker und mit Mitte 40 einer der Jüngeren auf einem Lehrstuhl, sieht die Zukunftschancen für seine Studenten daher eher fern der Kernkraftwerke: Im Strahlenschutz, bei der Entwicklung medizinischer Bestrahlungsanlagen, bei Analysemethoden von Umweltproben oder in der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung, wo mit radioaktiver Strahlung nach möglichen Verarbeitungsfehlern gesucht wird.

Von der klassischen Kerntechnik mit Reaktorbau und -forschung haben sich diese Aufgabenfelder längst gelöst. Bis Hoylers Studenten hier aktiv werden können, heißt es noch so manche Physikklausur bestehen und so manches Experiment durchstehen.

Die fünf Nachwuchskerntechniker sitzen eng zusammen in den ersten beiden Reihen des Unterrichtsraums. Platz hätten zehnmal so viele. Als die Fachhochschule Jülich 1968 eröffnet wurde, waren die Studienzahlen noch vielversprechender. Jetzt herrscht Platzmangel nur auf der Tafel, sie quillt über von Formeln. Kreideflecken machen sich breit auf dem schwarzen Hemd von Professor Hoyler. Mit Begeisterung und schwäbelndem Witz versucht er seiner kleinen Studentenschar das Rutherford-Experiment zu vermitteln. Lebensdauer von Neutronen, Teilchendichte, Protonenladung. Bei Fragen muss man sich hier nicht melden. Wenn keiner die Antwort weiß, geht der Blick aus dem Fenster. Man kann sich entscheiden zwischen bunten Herbstblättern und dem Grau des weit verzweigten FH-Gebäudes.

Nicht weit von hier entfernt liegt Garzweiler, der Braunkohletagebau, von dem man außerhalb Nordrhein-Westfalens meist nur die geplante Ergänzung mit der römischen Zwei kennt. Wenn Professor Hoyler Besuch bekommt aus dem heimatlichen Süddeutschland, macht er gerne mal einen Ausflug nach Garzweiler I. Demonstriert vor Ort und ganz anschaulich die „Auswirkungen der fossilen Energiegewinnung, die in Deutschland immer noch etwa 50 Prozent der öffentlichen Stromversorgung ausmacht“.

Kohle als Buhmann der Kerntechniker. Mit diesen Vorgaben können die Jülicher die atomare Energiegewinnung als umweltfreundlich, schadstoffarm und effektiv verkaufen. Mit den erneuerbaren Energien stehen die „Kernis“ nicht auf Kriegsfuß. Stolz präsentiert Kernphysiker Hoyler den Solarpark der Fachhochschule Jülich. Neben dem Haupteingang stehen kleine Holzhäuser, auf deren Dächern wird Solarenergiegewinnung demonstriert. Zuständig dafür ist der im Vergleich zur Kerntechnik rund zehnmal so stark vertretene Studienschwerpunkt Energie- und Umweltschutztechnik. Das Grundstudium im Bereich Maschinenbau verläuft parallel, erst im 5. Semester trennen sich die angehenden Energie- und Umweltschutztechniker und die Kerntechniker. Man trifft sich wieder an Abenden wie diesen.

Die Fachhochschule und die Studentengemeinden haben eingeladen zur Frage „Grünes Engineering – weiße Weste? Tragfähige Energiekonzepte für die Zukunft“. Ein Gesprächsforum mit Verfechtern und Gegnern der Kernenergie. Diskussion um die Machbarkeit zukünftiger Energiegewinnung.

Hörsäale sind in Jülich selten so voll wie das Auditorium in diesen beiden Stunden. Man trifft sich in dem Neubau „Solarcampus“, der mit Schifferparkett und freundlichen Gelbtönen ein Gegengewicht zum 60er-Jahre-Stil der Haupteinrichtung bildet.

Zahlen, Einschätzungen, Meinungen prallen an diesem Abend aufeinander. Als ein Ökowissenschaftler im Podium vehement für den Einstieg in regenerative Energien, für Sonne, Wind, Wasser und Biomasse plädiert, protestiert nicht nur Gregor Heufer. Er wehrt sich gegen die Verteufelung der Kerntechnik und stößt auf Zustimmung. Denn für viele Wissenschaftler und Studierende der Fachhochschule Jülich sind Solarpark und Reaktorstudien kein Gegensatz. Sie sehen die Energiegewinnung der Zukunft als Kombination ihrer scheinbar so unterschiedlichen Studienschwerpunkte. Das Gegeneinander überlassen sie den anderen.

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