: Krenz in der Rolle des Märtyrers
Der wegen Totschlags verurteilte Ex-Staatsratschef verbringt seine letzten Tage in Freiheit auf Soli-Veranstaltungen – und in Unschuldspose
Berlin (taz) – Das System irrt. Es irrt, und eines Tages wird sich das rächen. Egon Krenz ist davon überzeugt, und deswegen begegnet er dem Blitzlichtgewitter mit herausforderndem Blick, er sieht keinen Grund, sich zu verstecken. Einzig „aus politischen Gründen“ wolle das System, das neue, das ungerechte, ihn, den früheren Staatsratschef, den ehemals mächtigsten Mann der DDR, seiner Freiheit berauben, sechseinhalb Jahre lang. Aber sieht er vielleicht aus wie ein Schwerverbrecher? Einer, der die Verantwortung für Totschlag in vier Fällen an der DDR-Grenze trägt?
Egon Krenz trägt feines graues Tuch an diesem Mittwochabend in der Berliner Stadtbibliothek, der Teint ist gesund, die grauweiß melierten Haare ordentlich frisiert. „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“, sagt er beim Hereinkommen. Wohlwollende Blicke aus dem Publikum. Es werde sein letzter Abend in Freiheit sein, hatte es noch nachmittags geheißen, und Krenz hatte sich dafür entschieden, ihn als stummer Zuhörer in einem Publikum zu verbringen, das der guten alten Zeit hinterhertrauert.
Als „ganz besonderen Gast“ begrüßen ihn die Herausgeber einer Gedenkschrift für den DDR-Philosophen Wolfgang Harich, die an diesem Abend vorgestellt wird. Schließlich war Harich auf seine Art auch ein Märtyrer, schließlich hat auch er im Knast gesessen. Vielleicht fühlt Krenz sich hier deswegen so wohl. Dass es Krenz’ Parteifreunde waren, die einst Harich wegen Abweichlertums sieben Jahre in Einzelhaft steckten, was macht das heute noch? Das System irrt eben manchmal.
Schon am gestrigen Donnerstag sollte Krenz ursprünglich die Vier-Mann-Zelle in der Justizvollzugsanstalt Hakenfelde beziehen. Nach monatelangem Rechtsstreit hatte das Kammergericht am Vortag jeden weiteren Haftaufschub abgelehnt. Krenz’ Anwalt eilte zum Bundesverfassungsgericht: Die Haft sei ein Unding, solange der Europäische Gerichtshof sich nicht zur Haftstrafe geäußert habe. Über diesen Antrag soll Anfang nächster Woche entschieden werden – bis dahin bleibt Krenz auf freiem Fuß. Und hat Zeit für noch die eine oder andere Solidaritätsveranstaltung. Heike Haarhoff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen