: „Die Machthaber haben die Rentner gekauft“
Marina Pawlowa-Silwanskaja, Historikerin und Mitarbeiterin der Carnegie-Stiftung in Moskau, über Tricks im Wahlkampf, die Rolle des Tschetschenienkrieges und den neuen Konsens der Eliten
taz: Kann man heute in Russland überhaupt von freien Wahlen sprechen?
Marina Pawlowa-Silwanskaja: Nur in einem formalen Sinne. Noch nie tobte im neuen Russland ein derartiger Informationskrieg. Man kann sogar von einer Informationsblockade sprechen. Das betrifft vor allem die Lage in Tschetschenien, die bei diesen Wahlen eine große Rolle spielt. Dazu kommt ein massiver Druck auf die Zentrale Wahlkommission.
Wie sieht der aus?
Man versucht, in den Prozess der Registrierung der Wahlblöcke einzugreifen. Vor allem trifft das Luschkows und Primakows „Vaterland/Ganz Russland“. Etwa 30 Deputierten dieses Blocks wurden „von oben“ hohe Summen geboten – bis zu 80.000 US-Dollar –, wenn sie ihre Kandidatur zurückzögen. Dann könnte der Block im letzten Moment von den Wahlzetteln gestrichen werden.
Wie real schätzen Sie denn die hohe Beliebtheitsrate Putins und des von ihm unterstützten Wahlblocks „Einheit“ ein?
Als reine Manipulation können wir sie nicht betrachten. Die armen Wähler und Rentner sind enttäuscht davon, wie die von ihnen letztes Mal gewählten Parteien ihre Versprechen gebrochen haben. Dagegen sind von der Regierung und den Gouverneuren vor Ort ein großer Teil der Rentenschulden getilgt worden. In den letzten Monaten hat die Regierung zweimal die Renten erhöht. So gesehen haben die Machthaber die Rentner gekauft. Und mit diesen Maßnahmen wird Putins „Einheit“ als Partei der Machthaber identifiziert. Im Augenblick spielt noch Tschetschenien als einigender Faktor der Regierung in die Hand.
Glauben die Leute heute wirklich die Regierungspropaganda, Tschetschenien sei inzwischen zum Brutherd des internationalen Terrorismus geworden?
Viele schon. Bisher hält auch die Mehrheit der russischen Bürger unsere Verluste in Tschetschenien für noch vertretbar. Wobei keine Rolle spielt, wie hoch diese in Wirklichkeit sind. Damals zeigte ein Fernsehsender alle Schrecken dieses Krieges. Heute tut er dies nicht mehr.
Fast die Hälfte der Russen hat erklärt, sie würden gern wieder von Leonid Breschnjew regiert, falls dieser auferstünde. Dazu kommt die große Beliebtheit des 70-jährigen Jewgeni Primakows. Führt die Sowjetnostalgie heute zu einem Boom der Politgreise?
Im Gegenteil. Zum ersten Mal wird die Dringlichkeit eines Generationswechsels so klar in den Vordergrund eines Wahlkampfs gestellt. Darauf bauen die „Union der rechten Kräfte“ und der Block „Einheit“ jetzt ihre Propaganda auf. Und auch Putin selbst spricht schon davon. Das Phänomen Putin besteht aus der Kombination von relativer Jugend plus Unterstützung durch die Geheimdienste.
Woher kommt die Stärke der Kommunisten bei den gegenwärtigen Umfragen, wenn sie bei den Rentnern verloren haben?
Die Gouverneure versuchen diesmal, die Duma unter ihre Fuchtel zu bekommen. Sie schleusen ihre Leute auch auf die Parteilisten ein. Da wir viele kommunistische Gouverneure haben, ist die Macht der Kommunisten in den letzten Wochen ohne große Agitation ihrerseits wieder gewachsen. Außerdem können wir zur Zeit so etwas wie eine Konsolidierung der neuen russischen Eliten vor dem Hintergrund des Tschetschenienkrieges beobachten. Sie sind durchaus bereit, mit den Kommunisten und über die Grenzen der Blöcke „Vaterland/Ganz Russland“ und „Einheit“ zu kooperieren.
Die Wahlen finden vor dem Hintergrund des Konsenses der mächtigen Eliten statt, der im Zeichen des Tschetschenienkrieges antiwestlich ausfallen wird. Bedeutet das die Rückkehr zum Kalten Krieg?
Kaum. Schließlich hat in diesen Eliten der eine eine Villa in der Provence, der andere eine Niederlassung in Italien und alle haben sie Konten in der Schweiz. Das wird kein Kalter Krieg und kein Eiserner Vorhang, sondern höchstens ein kühles Ziergardinchen.Interview: Barbara Kerneck
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen