: Diese Mauer muss nicht weg
In Nordirland herrscht Frieden, die Bürgerkriegsparteien regieren gemeinsam. Aber nach wie vor trennen Mauern die katholischen und protestantischen Teile von Belfast, und das wird auch so bleiben ■ Aus Belfast Ralf Sotscheck
Tony zieht den Kopf ein und behält die Mauer im Auge. Es ist Spätnachmittag, in dieser Jahreszeit wird es früh dunkel, und mit Beginn der Dämmerung fliegen die ersten Steine, Stahlkugeln und Flaschen über die Mauer an der Bombay Street. „Es passiert vor allem am Wochenende“, sagt Tony, „wenn die Jugendlichen von drüben Langeweile haben.“
Drüben – das ist das Protestantenviertel an der Shankill Road im Westen Belfasts, der nordirischen Hauptstadt. Von dort stürmten vor 30 Jahren, als der Konflikt in der britischen Provinz begann, Bewaffnete in die katholische Bombay Street im Bezirk Clonard und brannten die Häuser nieder. Die Bewohner mussten fliehen, aber sie kehrten zurück, als ihre Häuser restauriert waren und die Mauer sie vor weiteren Überfällen schützte.
Das Bauwerk ist eine halbe Meile lang, sechs Meter hoch und besteht aus einer Million Ziegelsteinen. Die „Friedenslinie“, wie sie genannt wird, steht länger, als die Berliner Mauer gestanden hat – 29 Jahre sind es inzwischen.
Hinter den Häusern stoßen kleine Gärten an die Mauer. Tony hat Netze über seinen Garten gespannt, sie sind an der Dachrinne befestigt und sollen Wurfgeschosse abfangen, damit die Fensterscheiben nicht zu Bruch gehen. „Wir sitzen nie im Garten, niemand auf dieser Seite der Bombay Street sitzt im Garten, auch bei schönem Wetter nicht“, sagt Tony. „Wer will schon auf eine sechs Meter hohe Mauer starren?“
Tony ist 48. Er ist groß, fast 1,90 Meter, ziemlich dünn, seine dichten, schwarzen Locken werden von einem Gummiband zusammengehalten. Seit er verheiratet ist, und das sind 20 Jahre, wohnt er in der Bombay Street. Fast genauso lange ist er arbeitslos, wenn man von Gelegenheitsjobs absieht. „Der Friedensprozess hat unser Leben nicht verändert“, sagt er. „Im Schloss Stormont mögen unsere Politiker mit denen von drüben reden, aber die Steine fliegen nach wie vor über die Mauer.“
Die Anwohner fordern, die Mauer noch höher zu machen, denn sie haben Angst, dass sie wieder zum Angriffsziel werden, wenn der Friedensprozess schief geht. Die brennende Bombay Street von 1969 hat niemand vergessen, selbst die Kinder haben die Bilder vor Augen, denn sie werden in Fernsehberichten immer wieder gezeigt.
Gegenüber von Tonys Haus, an der Giebelwand von Nummer 22, hat jemand ein Wandgemälde angebracht, das brennende Häuser und fliehende Menschen zeigt. „Nie wieder“, steht darüber und unten: „Decommission – no mission.“ „Im Belfaster Dialekt heißt das: Auf keinen Fall die Waffen abgeben, niemals“, erklärt Tony. „Wer soll uns denn schützen, wenn die IRA-Männer keine Waffen mehr haben?“
Männer wie Tom Williams, IRA-Mitglied, der 1942 im Belfaster Gefängnis hingerichtet worden ist? Über der Eingangstür der Nummer 22 hängt seine Ehrentafel, er hat früher in dem Haus gewohnt. Aber die IRA muss spätestens im Februar mit der Abrüstung beginnen, sonst scheitert der Friedensprozess doch noch, die gerade eingeführten Institutionen müssten wieder aufgelöst werden: das nordirische Parlament und die Regionalregierung, die seit 2. Dezember im Amt ist; die kurz darauf eingerichteten gesamtirischen Behörden für Angelegenheiten, die die ganze Insel betreffen; die vorige Woche gegründete britisch-irische Regierungskonferenz für die Beziehungen zwischen Großbritannien und Irland und der britisch-irische Rat, der Freitag zum ersten Mal zusammenkam, mit Vertretern der beiden Regierungen sowie der Regionalverwaltungen aus Nordirland, Schottland und Wales und die Verwaltungen der autonomen Inseln Man, Jersey und Guernsey.
„Es ist gut, dass die Institutionen, auf die man sich im Friedensabkommen von Karfreitag 1998 geeinigt hat, jetzt endlich die Arbeit aufgenommen haben“, sagt Tonys 40-jährige Frau Tara. „Nur so lässt sich allmählich das Misstrauen zwischen beiden Seiten abbauen. Tony Blair hat zum ersten Mal öffentlich einem Sinn-Féin-Mitglied die Hand geschüttelt, das ist doch ein kleiner Schritt in Richtung Normalisierung.“ Vorige Woche, als der britisch-irische Rat zusammentrat, begrüßte der britische Premierminister per Handschlag Bairbre de Brun, die von Sinn Féin, dem politischen Flügel der IRA, zur Ministerin für Gesundheit und Soziales bestimmt wurde.
„Das sind Politiker, und Politiker haben das Abkommen ja auch ausgehandelt“, wendet Tony ein. „Aber die Kinder laufen auf Anweisung ihrer Eltern davon, wenn Bildungsminister Martin McGuinness von Sinn Féin eine protestantische Schule besucht.“ Das Misstrauen vor Ort sitze tief, sagt Tony, und es werde Generationen dauern, bis es überwunden sei.
„Man kann den Prozess beschleunigen“, glaubt Tara. „Nimm zum Beispiel die Zeitschrift, die gemeinsam von Ex-IRA-Leuten und ehemaligen protestantischen Terroristen herausgegeben werden soll, um Vorurteile abzubauen. Noch vor drei Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dass ein IRA-Mann zu einer Redaktionssitzung auf die Shankill Road geht oder einer von drüben zu uns nach Clonard kommt.“
Clonard ist dem Untergang geweiht. 1994 ordnete die Stadtverwaltung den Zwangsverkauf der 535 Häuser an. Die Eigentümer erhielten zwischen 17.000 und 19.000 Pfund – viel zu wenig, um ein neues Haus zu kaufen. „Zunächst hat man uns versprochen, dass wir alle in Clonard bleiben können“, sagt Tony, „aber davon wollten sie dann nichts mehr wissen.“ Tony und Tara und ihre vier Kinder ziehen weg, nach Andersonstown drei Kilometer westlich. „Bisher haben wir in unserem eigenen Haus gewohnt“, sagt Tara, „künftig müssen wir 60 Pfund Miete in der Woche zahlen. Die Stütze haben sie uns auch gestrichen, weil wir wegen des Hausverkaufs eine Menge Geld auf dem Konto haben.“
Schlimmer als die gestrichene Sozialhilfe ist für Tara die Zerstörung von Clonard. Tara ist in der Oranmore Street aufgewachsen, nur zwei Straßen von der Bombay Street entfernt. „Wir waren acht“, erzählt sie, „das Haus war winzig, zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine kleine Küche und das Klo hinten im Hof.“ Dort, wo das Haus bis vor wenigen Wochen stand, ist jetzt eine Brachfläche. Von den Häusern, die weiter aufwärts und in den Parallelstraßen noch stehen, ist nicht mal die Hälfte bewohnt, bei den anderen sind Fenster und Eingangstür zugemauert.
Am Ende der Oranmore Street steht ein großes, weißes, viktorianisches Haus mit ionischen Säulen. Es gehörte früher dem Eigentümer einer Leinenmühle, ihm gehörte das knapp zwei Hektar große Clonard-Areal und auch das Land, auf dem die riesige katholische Kirche und das Kloster gegenüber der Oranmore Street gebaut wurde. Bis Frühjahr werden auch die letzten Häuser abgerissen sein, an ihre Stelle kommen schicke Doppelhäuser mit Gärten.
Da sie mehr Platz benötigen, werden nicht einmal die Straßen so bleiben, wie sie waren. Dann werden nur noch die Fotos im Blackstaff, dem ausgebombten und wieder aufgebauten Pub an der Ecke Springfield Road, an Clonard erinnern, wie es früher war.
Einer der Treffpunkte war Annie McGlincheys „Shebeen“, eine illegale Kneipe, in der sie Whiskey und Bier an Stammkunden ausschenkte. Das Haus neben dem viktorianischen Bau des Mühlenbesitzers ist bereits abgerissen, jetzt steht dort ein modernes Altersheim. Als die Stadtverwaltung das Viertel für einen symbolischen Preis an ein Bauunternehmen verkaufte, machte sie zur Auflage, dass 26 Häuser Sozialbauten sein müssen. Bei den übrigen Häusern hat die Baufirma freie Hand. Ziel ist es, Familien aus der Mittelschicht anzusiedeln, um „die Gegend für uns zu stabilisieren“, wie ein Beamter es ausdrückte.
Das gilt auch für das Gebiet jenseits der Mauer. Dort, am Cupar Way, stehen schon lange keine Häuser mehr, nur die Grundmauern zeugen noch davon, dass vor 30 Jahren die Menschen von Shankill und Clonard nebeneinander wohnten. Heute ist Cupar Way tagsüber eine Durchfahrtstraße, nachts wie ausgestorben, bis auf die Jugendlichen, die hin und wieder mit Steinen und Stahlkugeln und Flaschen kommen.
Das Viertel zwischen Cupar Street und Shankill Road unterscheidet sich nicht sonderlich von Clonard, bis auf die politischen Wandmalereien natürlich. Auch mit dieser Gegend hat die Stadtverwaltung Großes vor. Die Hauptstraße, Lanark Way, soll zu einer breiten Allee werden, die zur neuen Universität führt; die kleinen Reihenhäuser in den Seitenstraßen sollen modernisiert werden.
Das Nordirlandministerium hofft, dass die Mauer irgendwann einmal überflüssig wird. „Man kann die Menschen umsiedeln“, sagt Tony, „aber dadurch verlagert man das Problem lediglich. Clonard mit seiner Mauer ist ja kein Einzelfall.“ Es gibt 20 andere Mauern in Belfast, manche aus Wellblech oder Stein, andere aus Maschendraht. Eine Mauer in Nordbelfast verläuft mitten durch den Alexandra-Park und teilt ihn in eine katholische und eine protestantische Hälfte. Der Grundstein für diese Mauer wurde am 1. September 1994 gelegt, dem Tag, an dem der IRA-Waffenstillstand begann.
Fra McCann, ein Belfaster Stadtverordneter für Sinn Féin, lebt auf der Falls Road, gleich neben Clonard. Er hat sich von Anfang an im Friedensprozess engagiert, im Rathaus verhandelt er täglich mit unionistischen Politikern. Aber seine Wähler führen keine Gespräche mit Unionisten. Niemand von ihnen würde auf die Idee kommen, auf die andere Seite der Mauer zu gehen.
„Es ist traurig, dass es am Ende des 20. Jahrhunderts eine Mauer gibt, die eine Stadt in Westeuropa teilt“, sagt McCann. „Aber selbst wenn wir eine politische Lösung für den Nordirland-Konflikt finden, wird es Jahre dauern, bis sich die Menschen sicher genug fühlen, um die Barrieren niederzureißen.“
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