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Erfahrungen von der Bordsteinkante

■ Die taz Berlin überlässt ihre Seiten für einen Tag den Straßenkindern der Stadt. Die Ausgabe wurde zusammen mit dem Verein Karuna produziert. Er ist Herausgeber des bundesweit einzigen Straßenkindermagazins „Zeitdruck“

Auch in Deutschland leben Kinder und Jugendliche zeitweise oder dauerhaft obdachlos auf der Straße. Deshalb engagiert seit zehn Jahren die private Hilfsorganisation „Karuna – Hilfe für suchtgefährdete und suchtkranke Kinder und Jugendliche“.

Glücklich schmiegt sich der kleine Philipp an seine Mutter, zieht an ihrer grünen Haarsträhne, während der junge Vater irgendwas zu Essen rührt. Eine fast alltägliche Szene in der Straßenkinderredaktion Zeitdruck des Hilfevereins Karuna, seit Erina (19) und Grotti (20) ihren Sohn bekamen.

„So gut wie heute ging es mir lange nicht“, erzählt Erina. „Ich hatte zu Hause auch eine Familie, eine große sogar, mit Oma, Opa, Tante und ihrem Freund und meiner Mutter und ihrem Freund. Nach außen hin war alles in bester Ordnung, aber meine Oma ist Alkoholikerin, mein Opa war er nur am Arbeiten. Über meine Mutter rede ich nicht gerne, sie hatte ständig neue Freunde und arbeitete abends in der Kneipe. Ich konnte meist bis in die Nacht fernsehen. Morgens kam ich nie pünktlich aus dem Bett. So schaffte ich die Schule nicht und haute ab auf die Kölner Domplatte, da war ich zwölf. Bald darauf ging ich mit anderen Straßenkindern nach Berlin und griff zu harten Drogen.“

Immer wieder fragen sich Eltern: Warum? Zum Drogenmissbrauch führt ein kompliziertes Wechselspiel zwischen familiären Belastungen, Lebensereignissen, Perspektivlosigkeit, Angst und der Verfügbarkeit von Drogen. So konsumieren Jugendliche ohne Ausbildung massiv stärker Drogen als Gleichaltrige mit Ausbildung. Allein in Berlin bekommen auch im Jahr 2000 wieder tausende keine Ausbildung.

Auch Gewalt in der der Familie, ist eine wesentliche Ursache für süchtiges Verhalten: 10 Prozent aller in Deutschland lebenden Kinder werden körperlich misshandelt. Tausende Mädchen und Jungen werden jährlich in der Bundesrepublik sexuell missbraucht. Sucht hat Ursachen.

Karuna baute daher eine Vielzahl einander ergänzender Projekte auf, um den Ursachen des Suchtverhaltens individuell begegnen zu können: Das „Karuna-Mobil“, das vor allem obdachlose Jugendliche am Alexanderplatz aufsucht. Das Wohnprojekt „Störtebeker“ für suchtgefährdete Minderjährige. Den Bioladen „Bio de Janeiro“. Das „Zwischenland“ für drogenabhängige Jugendliche. Und die Zeitdruck-Redaktion.

Hier ist Erina vor Jahren aufgetaucht. „Hier habe ich mich einfach wohl gefühlt“, erzählt Erina. „Es ist ein bisschen wie Familie. Endlich hatte jemand Zeit für mich, hat zugehört und wusste nicht gleich alles besser“. Außerdem habe ihr das Schreiben in der Redaktion gut getan. „Besonders stolz bin ich auf meine Märchen“, erzählt Erina, „die kann ich meinem Sohn vorlesen und denken, es ist nur für ihn.“

Das 20. Jahrhundert geht zu Ende. Ein Jahrhundert des Kindes, so wie es die schwedische Schriftstellerin Ellen Key vor 99 Jahren prophezeite, wurde es nicht. Hoffen wir, dass das nächste Jahrhundert das Jahrhundert des Kindes wird, sonst geht irgendwann gar nichts mehr.

Hannelore Fischer (Zeitdruck)

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