Ohrfeige für Russlands Geheimdienst

Mit dem Fall des Umweltschützers Nikitin wollte der FSB ein Exempel statuieren. Erfolglos. Die Anklage ist verfassungswidrig

Moskau (taz) – Das St. Petersburger Stadtgericht sprach den ehemaligen Marinekapitän Alexander Nikitin, der des Landes- und Geheimnisverrats angeklagt worden war, gestern wider Erwarten frei. Richter Sergej Golez wies die Anklagepunkte mit der Begründung zurück, sie verstießen gegen die Verfassung der Russischen Föderation. So sei das Gesetz über Staatsgeheimnisse erst nach der Inhaftierung Nikitins erlassen worden. Derweil die geheimen Verordnungen des Verteidigungsministeriums, auf die sich die Anklage auch stütze, dem Angeklagten selbstverständlich nicht bekannt gewesen sein konnten. „Die Anwendung dieser Verordnungen ist eine direkte Verletzung der Verfassung der Russischen Föderation“, urteilte das Gericht.

Vier Jahre hatte sich der „Fall Nikitin“ hingezogen. Im Februar 1996 wurde der ehemalige Marinekapitän unter dem Verdacht auf Hochverrat und Spionage in St. Petersburg festgenommen. Der 46-jährige Umweltschützer hatte im Auftrag der norwegischen Umweltorganisation Bellona eine Studie über „potenzielle Risiken der Umweltverschmutzung durch die Nordflotte“ angefertigt.

Zweifel an der Praxis der russischen Marine, nukleare Abfälle ins Weißmeer zu verklappen, bestanden schon damals keine mehr. Nur war das Ausmaß nicht bekannt. Nikitin bestand darauf, ausschließlich allgemein zugängliches Material verwendet zu haben.

Nach seiner Festnahme verbrachte Nikitin zehn Monate in Isolationshaft. Derweil erhob der FSB, die Nachfolgeorganisation des KGB, Anklage. Verfahrensfehler, haltlose Anschuldigungen und zweifelhafte Rechtsauffassungen der Spitzelbehörde begleiteten von Anfang an das Prozessgeschehen. Das erste Verfahren im Oktober 1998 endete damit, dass das St. Petersburger Stadtgericht den FSB aufforderte, die Anklagepunkte „zu konkretisieren“.

Für den FSB stellte der Fall Nikitin mehr dar als einen gewöhnlichen Kasus von „Hochverrat“. Die Agentur wollte an dem Umweltschützer ein Exempel statuieren und ihr Prestige wieder aufpolieren. Zumal die öffentliche Stimmung, die sich in den letzten Jahren antiwestlich einfärbte, die Sache des Geheimdienstes noch zu fördern schien. Überdies besetzten Mitarbeiter der Sicherheitsbehörde Schlüsselpositionen in Politik und Verwaltung. Mit Jewgeni Primakow übernahm im September letzten Jahres ein Geheimdienstler den Posten des Premiers.

In St. Petersburg gelangte im Frühjahr der Chef der Presseabteilung des FSB, Jewgeni Lukin, auf den Intendantensessel des lokalen Fernsehsenders. Er bezichtigte Nikitin, durch den Bellona-Report die Nuklearmacht Russland erniedrigt und der Nato den Weg in den Kosovo geebnet zu haben. Kritische Journalisten verloren ihre Jobs, wurden erpresst oder unter Druck gesetzt. Vor diesem Hintergrund ist das Urteil eine mutige Entscheidung. Lässt es sich zu einem Hinweis auf ein unabhängiges Justizsystem verallgemeinern? Klaus-Helge Donath