: Unter Schmerz sollst du gebären
Eine Schwangere, die ihre Geburtsschmerzen als unerträglich empfindet, kann heute auf die Möglichkeiten der Schmerztherapie vertrauen und um Hilfe bitten. Die Hand einer erfahrenen Ärztin vorausgesetzt, wird sie diese Hilfe weitgehend ohne Gefahr für sich und das Kind erhalten. Das ist neu. Aber ist es sinnvoll? Von Susanna Kramarz
Aus der schmerztherapeutischen Forschung hat die Geburtsmedizin ein Mittel zu einer staunenswerten Linderung der Schmerzen entlehnt: die Periduralanästhesie (PDA). Während der Geburt wird hierbei vom Arzt oder der Ärztin Schmerzmittel neben dem Rückenmark in die Nähe von Nerven gespritzt, die Schmerzimpulse aus der Gebärmutter ins Rückenmark und ins Gehirn weiterleiten. Innerhalb kürzester Zeit nimmt das Bewusstsein diese Schmerzimpulse nicht mehr wahr. Die Wehentätigkeit bleibt weitestgehend erhalten, auch der Beckenboden dehnt sich weiter, um schließlich das Kind hindurchzulassen.
Bei der PDA wurden bis vor kurzem so viele Betäubungsmittel gespritzt, dass die Schwangere danach viele Stunden lang keinerlei Gefühl mehr hatte für den Verlauf der Geburt, für ihre Beine und Füße. Heute wird die Menge des Mittels stark reduziert und zusätzlich eine geringe Dosis eines örtlich wirkenden Opiats zugesetzt. Der erstaunliche Effekt: Die Wehen bleiben spürbar, gelegentlich sogar leicht schmerzhaft, was viele Frauen sehr positiv aufnehmen. Die Frauen bleiben vollkommen beweglich: „Wir führen sogar Wassergeburten unter dieser neuen Form der PDA durch“, resümiert Prof. Dr. Heribert Kentenich, Chefarzt der Frauenklinik Pulsstraße, DRK-Kliniken Berlin-Westend. „Die Frauen erleben die Geburt sehr bewusst mit, können sich auf das positive Erleben viel besser konzentrieren, als wenn sie unter unerträglichen Schmerzen leiden würden. Da wir in unserer Klinik sehr großen Wert darauf legen, dass von Anfang an eine enge, positive Mutter-Kind-Bindung entstehen kann, sind wir froh über diese Möglichkeit.“
Marianne Ebeling, Hebamme im Geburtshaus e. V. in Berlin-Charlottenburg, sieht das auf den ersten Blick ähnlich: „Als ambulant tätige Hebammen arbeiten wir grundsätzlich ohne PDA, weil diese Spritze nur von Ärzten gegeben werden darf. Wir nutzen gemeinsam mit den Schwangeren alle Möglichkeiten der Naturheilkunde – Tiefenentspannung, Atmung, Massage – maximal aus. Aber es gibt seltene Fälle, in denen wir auch bei optimaler Vorbereitung die Geburtsschmerzen nicht erträglich machen können. Hier sind wir dann sehr froh, dass wir unsere Frauen in eine Geburtsklinik unseres Vertrauens begleiten können, wo ihnen diese Schmerzlinderung angeboten wird.“
Einfache statistische Zahlen reichen aus, um zum großen ABER überzuleiten. Aus dem Geburtshaus werden weniger als fünf Prozent der Gebärenden wegen derartiger „unerträglicher Schmerzen“ zur PDA in eine Geburtsklinik gebracht. Unter den Frauen, die von vornherein in der Klinik entbinden, erhält ungefähr jede vierte eine PDA – Kaiserschnitte nicht mitgerechnet. Werden nun die Geburtsschmerzen für jede fünfte Frau unerträglich? Oder für jede zwanzigste? Oder, wenn diese Methode eine schmerzarme, aber sehr bewusste Geburt ermöglicht, warum wird sie dann nicht bei 80 oder 95 Prozent aller Entbindungen angewendet? Was ist unerträglich? Und für wen?
Zunächst einmal empfinden die allermeisten Frauen den Wehenschmerz zwar als belastend, aber nicht unbedingt als unerwünscht. Nur allmählich nimmt die Wehenstärke und damit die Stärke des Schmerzes zu, verkürzt sich die Phase zur Erholung zwischen den Wehen. Nach und nach wird die Gebärende zu allen nur verfügbaren Hilfsmitteln greifen: zu Entspannungs- und Atemübungen, Massagen durch Partner oder Hebamme, später zu pausenlosem Stöhnen, Schreien, Weinen; sie wird sich an Hebamme oder Partner festkrallen, das Laken zerreißen, Flüche und Verwünschungen ausstoßen oder in anderer Weise die Regeln des normalen Umgangs über den Haufen werfen.
Offensichtlich ist es sehr unterschiedlich, wann eine Frau keine Möglichkeit mehr sieht, dieses Grenzerlebnis von Brutalität und Schmerz auszuhalten. Die Lautstärke allein kann hierfür kein Maßstab sein, auch nicht der – verständliche – Wunsch von übernächtigten KlinikmitarbeiterInnen, es möge endlich Ruhe in den Kreißsälen herrschen.
Auch kann, so Marianne Ebeling, die Bitte der Gebärenden um Schmerzlinderung dem Wunsch entspringen, ihren Partner, Ärzte und Hebammen mit ihren Schmerzäußerungen nicht über deren (!) Grenzen hinaus zu beanspruchen. Vielen Gebärenden ist die Situation in der Klinik überaus peinlich, zumal dann, wenn ungefragt neben Hebamme und den mitgebrachten HelferInnen weitere Personen anwesend sind: Ärzte, Studenten, Praktikanten. Andere wieder fühlen sich ihren Schmerzen ausgeliefert, weil eine Hebamme in einer Klinik oft mehrere Geburten zugleich betreuen muss und Gebärende gelegentlich über einige Zeit allein lässt. Oder die Stimmung ist unfreundlich, es fallen beschämende – und grundsätzlich völlig unangebrachte – Bemerkungen über die Lärmbelästigung.
In all diesen Fällen entspringt der verständliche Wunsch der Gebärenden nach wirksamer Schmerzlinderung nicht ihrem Empfinden von Schmerz, sondern dem von Scham, Erniedrigung, Angst, Einsamkeit. Und letztlich spielt auch immer die Frage mit, mit welchen Mitteln die Schwangere Schmerz und Anstrengung in ihrem bisherigen Leben überwunden hat. Warum muss die Geburt überhaupt so weh tun?
Die vielfältigen Funktionen des Geburtsschmerzes zählt Marianne Ebeling auf: Zunächst einmal geht es darum, dass die Schwangere den Beginn der Geburt überhaupt realisiert, dass sie sich und das gesamte Umfeld darauf einstellt. Die Schmerzen zwingen die Schwangere, zur Ruhe zu kommen. Zudem lässt die Intensität der Schmerzen für eine erfahrene Hebamme hilfreiche Rückschlüsse auf den Verlauf der Geburt und eine mögliche Gefährdung des Kindes zu. Für viele Schwangere, die sich während der neun Monate extrem wohl gefühlt haben, haben die Schmerzen auch einen symbolischen Gehalt: Es gilt, sich von einer sehr schönen Zeit zu verabschieden und auf eine neue Zeit zuzugehen.
Und als letzter Aspekt für die „Sinnhaftigkeit“ heftiger Geburtsschmerzen sei die Beobachtung vieler GeburtshelferInnen angefügt: Frauen, die die Entbindung aus eigener Kraft hinter sich gebracht haben, strahlen in den Stunden danach oft eine unglaubliche Energie aus. „Ich habe diese Grenzerfahrung bewältigt, ich habe unglaubliche Kraft, jetzt und für immer“, das ist der Kern. Diese Erinnerung kann sich später auszahlen, denn es kann immer wieder Situationen geben, die in ihrer Schmerzhaftigkeit, ihrer Unausweichlichkeit und in ihren Konsequenzen an das Geburtserlebnis zumindest symbolisch heranreichen: „Ich habe das damals geschafft, also werde ich jetzt auch hier lebend rauskommen . . .“
Die Erfahrung, aus eigener Kraft Schmerzen, Anstrengung, Erschöpfung überwunden zu haben, fehlt Frauen, die eine PDA bekommen haben. Daraus ein unüberbrückbares Defizit zu machen, gar diese Frauen eines übersteigerten Egoismus und der Unfähigkeit zur Mutterschaft zu bezichtigen, ist verfehlt: Es gibt genug Frauen, die, von Geburtsschmerzen überwältigt, ihr Kind tagelang nicht in den Arm nehmen wollen, ihm unbewusst die Schuld an ihren Schmerzen geben, die aus Angst keine weitere Schwangerschaft mehr wünschen, deren Beziehung zum Partner dauerhaft geschädigt ist.
Das alles ist wohl ein zu hoher Preis für eine „natürliche Geburt“: „Wenn wir sehen, dass eine Frau vor Schmerzen ihre Würde und ihre Persönlichkeit verliert, sehen wir es als notwendig an, zu helfen“, beschreibt Kentenich den Moment, in dem er beschließt, eine PDA zu geben. Außerdem gibt es für eine „gute Mutter“ auch in Zeiten fortgeschrittener Emanzipation noch viele Jahre nach der Entbindung zahllose, tägliche Möglichkeiten, ihre grenzenlose Belastbarkeit unter Beweis zu stellen und zu beweisen, dass durchlittener Geburtsschmerz für das Vorhandensein von Mutterqualitäten nicht unabdingbar ist.
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