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New York von innen
Stringer hat knapp zehn Jahre auf und unter den Straßen der Stadt gelebt. Seine Geschichten sind authentisch, aber ohne tragisches Pathos.
In New York zu leben, drogenabhängig, ohne Wohnung, ist eine Tragödie – könnte man meinen. Lee Stringer, der das fast zehn Jahre getan hat, ist anderer Ansicht. Und er hat seine Meinung, seine Geschichte aufgeschrieben. Nicht als zusammenhängende Erzählung, vom Absturz bis zur Wiederauferstehung, sondern in Episoden, die das Dasein auf der Straße in Bilder fassen. Harte Bilder, menschliche Bilder, lustige Bilder.
„Die Leute glauben, außerhalb des Mainstreams gibt es kein Leben, keine Liebe, keinen Hass. Das ist nicht wahr.“
Wer die Stories liest, merkt schnell, dass Stringer Recht hat. Nicht, dass er beschönigt. Physische Gefahr bis hin zur Todesangst, alles ist da. Sei es im drogenvernebelten Kampf mit einem messerbewaffneten Crack-Kumpanen, sei es beim Anblick einer Rasierklinge, die ihm ein „Kollege“ der Strafkolonne für Kreinkriminelle entgegenhält. Aber Stringer kommt durch. Seine Straßentauglichkeit ist bewiesen.
Wenn er andererseits von seinen Bemühungen erzählt, die Obdachlosenzeitung Street News zu verkaufen, voller Humor und Selbstironie, ist er von Pathos weit entfernt. Dem Mütterchen, das ihm den Preis von einem Dollar bezahlt, ohne die Zeitung zu wollen, widersetzt er sich hartnäckig. Er will keine Almosen. Schließlich akzeptiert sie das Blatt – nur um es auf der nächsten Bank liegen zu lassen, damit er es wieder mitnehmen kann. Das frustriert.
Aber Stringer gibt nicht so schnell auf. Als ihn ein selbstverliebter Yuppie nebst blondem Anhang aus Spaß um einen Dollar bittet, zieht er einen aus der Tasche. Da ist der Yuppie baff. Tatterigen Schrittes zieht er ab, die Blondine ist verstört.
„Obdachlosigkeit ist kein Problem, es ist ein Umstand“, ist Stringers Devise. Es ist eine Form des Lebens, wie andere auch. Wichtig ist nicht, die Obdachlosigkeit zu bekämpfen, sondern das persönliche Problem, das ihr zu Grunde liegt.
Martin Hager
Lee Stringer: „Grand Central Winter. New York – ganz unten“. Herder Verlag, 240 Seiten, 38 Mark
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