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Touristische Verirrung

In einen Hinterhof in Brooklyn, denn Manhattan ist fast so öd geworden wie Berlins neuer Herzschrittmacher, die Potsdamer Wüste ■ Von Balduin Winter

Zugegeben, ich gehöre zu jenen, die dann und wann nach New York fahren, einfach so. Selbstverständlich habe ich die touristischen Höhepunkte absolviert: Broadway, Central Park als symbolischen Metzelungsort der Manhattan-Indianer, die Immigranteninsel Ellis Island, die psychiatrische Anstalt in Staten Island, irgendwelche sagenhafte In-Clubs, die es im folgenden Jahr schon nicht mehr gibt, die Pennsylvania Station in der guten alten Version als Pennerstation, den Brezelverkäufer am Colonial Park (o Harlem!), Rockefeller Center, La Bohème in der Metropolitan Opera und, klar, als gelernter Alt-Beatnik das Chelsea-Hotel für eine flüchtige Sentimentalität (ja, damals, als Jack Kerouac hier sein „On the Road“ auf eine Endlospapierrolle tippte! ...).

Manhattan ist fast so öd geworden wie Berlins neuer Herzschrittmacher, die Potsdamer Wüste. Etwas für den Yuppie-Jetset und die neue Softmafia. Gabs da nicht einmal Kontrapunkte, die Bowery, Alphabet City im East Village und so? Sogar ihr einst so bedrohlicher Belagerungsring, die South Bronx, ist dank des tüchtigen Oberknutenmeisters Giuliani domestiziert. Schwerst bewaffnete Großrazzien gegen die Nichtsnutze, raus aus der Vorzeigestadt. Manhattan, die Puppenküche der USA, ein aufgeregt-grelles Rothenburg ob der Tauber in US-amerikanischen Dimensionen.

Zerstreutheit führt mich an merkwürdige Orte

Nichts wie weg, rein in die Subway. Hinüber nach Brooklyn. Auch hier lockten gleich wieder die touristischen Optionen: Brighton Beach Line? Coney Island Line? Odessa, Osteuropa im Süden? Das jüdische Viertel? Die Filmkulissen an den Stränden? Doch dann stieg ich irgendwo aus und merkte mir nicht einmal die Station.

Meine Zerstreutheit hatte mich schon manchmal an merkwürdige Orte gebracht. Eine Wohngegend. Nein, keine hübschen Brownstone-Häuschen mit Außenstufen und kleinen Vorgärten, sondern klobige Häuserreihen fern jeder Eleganz. Nach dem tobenden Manhattan war es hier ziemlich ruhig, nur wenig Verkehr, kaum Menschen. Die Häuser wirkten abweisend, eine Front; eine offene Einfahrt weckte meine Neugierde. Ich trat durch eine völlig demolierte Einfahrt mit dicht bekritzelten Wänden und gelangte in einen Hof, erstaunliche Stille.

Dann erblickte ich in einer Ecke zwischen einer Hauswand und einem Maschendrahtzaun eine zusammengeklappte Matratze, aus der zwei beschuhte Füße heraus standen. Die Mauer über dem Menschenpaket war beschmiert mit sexuellen Zeichnungen und Sprüchen, verblassten Graffitti und einer Sprühfigur mit Antennen, einer Gasmaske und einem Trostspruch in einer Sprechblase: „Don’t worry, you’re not going to leave this world alive!“ (Keine Bange, du wirst diese Welt nicht lebend verlassen!)

Es war Dezember, ein scharfer Wind von Kanada bauschte das schlaffe Maschengitter auf, die verrosteten Streben knarrten, die Drähte scheuerten aufeinander, beklemmende Geräusche. Vor dem Zaun stand eine stark beschädigte Bank. Der vorspringende Sockelarm klemmte die Matratze nieder, in der die Person fast zur Gänze eingehüllt lag, von der nur die Füße herausragten, beschuht mit Espandrilles, die Waden blank – ein Jemand, eingepackt in die Matratze wie ein Hamburger. Das nicht fixierte obere Ende der Matratze blähte sich auf und senkte sich in langsamen Abständen, dem Rhythmus des Windes folgend, der an den Hausmauern anbrandete, irgendwo ist das Meer. Ein großer Fleck neben der Matratze, vermutlich Pisse; ein weiterer Fleck, eine dünklere Flüssigkeit, noch frischer, zwischen dem Banksockel und dem Liegenden. Und das rostige Atmen des Hofes in der Stille. Kein Mensch ließ sich blicken. Der Drahtzaun, die Mauern, die Bankreste, die Windgeräusche, der Wandspruch, das Menschenpaket – ich weiß nicht mehr, vielleicht war es Angst oder einfach das Unbehagen, nicht mehr das Matratzenpaket sehen zu wollen, vielleicht war es ein Toter, vielleicht ein Schlafender, soll er seine Ruhe haben ... Ich ging rasch auf die Straße hinaus.

Verlassene Tankstelle,unbewohntes Haus

Gegenüber befand sich eine offen gelassene Tankstelle mit einer Garage und ein unbewohntes Haus aus verrußtem, brandgeschwärztem Backstein, die Öffnungen vernagelt. Zwischen Garage und Althaus eine schmale Gasse, die an einer niedrigen Steinbrüstung endete. Vor dem Mäuerchen saß ein Mann, gehüllt in einen Fellledermantel. An der Brüstung waren ein bärtiger, beleibter Schwarzer und eine weiße Frau in ein gestenreiches Gespräch vertieft. Ein paar Plastiktaschen und Bierdosen standen herum, außerdem ein seltsames Gefährt, das an einen Zahnarztstuhl erinnerte.

Der Schwarze fasste die Frau mit beiden Händen am Hals, während sie sich an seinen Oberarmen festhielt. Als er noch näher an sie heranrückte, um sie zu küssen, stieß er eine der Dosen um. Ihr Inhalt rann über die abschüssigen Steinplatten auf den Sitzenden zu, der sich aufrichtete, den sich nähernden Bachlauf verfolgte und mit dem Finger in die Flüssigkeit tupfte. Dann leckte er ihn ab, lachte, rief den beiden sich Küssenden etwas zu und wiederholte die Bewegung. Auch die beiden lachten, lösten sich aus der Umarmung und wandten sich dem anderen zu. Jetzt erst sah ich, dass die Frau keine Beine hatte. Schon im Weitergehen drehte ich mich ein paar Mal um, sah noch, wie die beiden Männer die Frau in den fahrbaren Zahnarztstuhl hineinhoben und die Plastiktaschen am Gefährt befestigten.

Zugegeben, den Abend verbrachte ich, obwohl Brooklyn durchaus einiges zu bieten hat, in Rothenburg on the Hudson. Meine New Yorker Bekannte, wohl vertraut im Umgang mit Touristen, zeigte mir in der Greenwich Street ein äußerst gepflegtes Restaurant von europäischem Niveau, in dem ich sehr gute Pasta und Triglie alla Calabrese verspeiste und dazu einen hervorragenden, original sizilianischen Weißwein serviert bekam. Und wunderbares Zabaione.

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