: Blaupausen für das neue Jahrtausend
Weder vorhersehbar noch langweilig, nur ein wenig unübersichtlich: Warum die Neunziger das bisher beste Pop-Jahrzehnt waren – ein ordnender Rückblick ■ Von René Martens
„Worum geht es beim Musikmachen also?“ „Bedeutung rausfiltern zugunsten von absoluter Sprengkraft“
(Wolfgang Voigt, Techno-Musiker, in einem Interview mit der Zeitschrift De:Bug)
„Zukunft ist nur möglich, wenn man in der Vergangenheit Neues entdeckt. Du suchst etwas, was du nicht findest, aber indem du es nicht findest, findest du etwas, was es vielleicht nie gegeben hat“ (Tim Gane, Stereolab)
Günther Janssen ist 45 Jahre alt, hat als Teenager die legendäre ARD-Sendung „Beat-Club“ verschlungen und ist seit den 70er-Jahren musikalisch aktiv. Heute veröffentlicht er, gemeinsam mit seiner Frau Regina (39), unter dem Namen Donna Regina leicht chansonhaften Pop für ein experimentelles Elektronik-Label – und findet, dass die Zeiten fürs Musikmachen noch nie so gut waren. „Die Neunziger waren auf jeden Fall besser als die Siebziger und die Achtziger. Heute ist musikalisch alles offener. Es geht immer weiter, man muss keine Stagnation befürchten wie noch in den 80er-Jahren“, sagt er. „Und gegenüber den Sechzigern haben die Neunziger den Vorteil, dass sie wirklich ein ganzes Jahrzehnt dauerten. Die Sechziger, wie wir sie sehen, fingen ja dagegen erst 1963 an. Davor war es ja, jugendkulturell gesehen, langweilig.“
Man muss sein popkulturelles Schlüsselerlebnis also nicht beim Set irgendeines Turntable-Magiers gehabt haben, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass die 90er-Jahre das bisher beste Jahrzehnt für Popmusik waren. Obwohl die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Pop produziert wurde, im ablaufenden Jahrzehnt weniger erfreulich waren denn je, weil sämtliche Majorlabel längst Teil multimedialer, teilweise auch jenseits der Unterhaltungsproduktion operierender Firmenkonglomerate sind: Die 90er-Jahre stehen für eine bisher einmalige Reichhaltigkeit an hochinteressanten Stilen, Genres und Kontexten. Welchen Entwicklungen und welchen Persönlichkeiten haben wir das zu verdanken?
Der Bristol Sound
Memphis, Nashville, Detroit – die Geschichte der Popmusik war stets auch eine spezifischer Städte. In den 90er-Jahren jedoch dienten Namen von Städten, wie auch die von Labels, viel stärker als zuvor als Orientierungskriterien. So fanden sich in Plattenläden Fächer, die beschriftet waren mit „Chicago“, „Wien“ oder „Weilheim“.
Die Stadt der Neunziger war Bristol. Die englische Hafenstadt hatte die Geschichte der Popmusik erstmals 1979 bereichert, als „Y“ von The Pop Group erschien, ein avantgardistisches und funkiges Post-Punk-Album.
Die Freigeistigkeit, die die Band auf dieser Platte auslebte, inspirierte viele spätere Protagonisten des Bristol Sounds. Und Mark Stewart, der Kopf von The Pop Group, spielte eine nicht unwesentliche Rolle in der Karriere von Tricky. Dessen erster Auftritt wurde 1987 nur möglich, weil Stewart ihn auf die Bühne gedrängt hatte.
Das war auch die Zeit, als sich Massive Attack formierten und die Basis schufen für das Album, das vier Jahre später die Pop-Welt verändern sollte: „Blue Lines“. John Robb bescheinigt 3 D, Mushroom und Daddy G in seinem Buch „The Nineties. What the f**k was that all about?“, sie hätten „das Konzept, was es bedeutete, eine Band zu sein, völlig verändert“, weil sie ohne festen Sänger arbeiteten und stattdessen verschiedene Vokalisten rekrutierten.
Massive Attack, große Bewunderer Martin Scorseses und mittelbar durchaus beeinflusst von ihm, schufen aus HipHop-, Reggae und Post-Punk-Elementen einen eleganten, geradezu weise wirkenden Downtempo-Sound, der die gesamte britische Street Culture widerspiegelte und auf den sich nahezu alle Popfraktionen einigen konnten.
So war „Blue Lines“ die erste genuin europäische Soul-Platte. Allerdings gibt es wie zu fast allen Meilensteinen ein vergessenes Pendant: „The Call Is Strong“ von Carlton, produziert von Smith & Mighty, erschienen 1990. Das Pionierduo nahm hier einiges von „Blue Lines“ vorweg.
Untrennbar mit dem Massive-Attack-Debüt verbunden ist das aufgrund seiner Einfachheit klassische Video zu dem Stück „Unfinished Sympathy“.
Die Bilder dieses Clips, die die Sängerin Shara Nelson zeigen, wie sie eine Straße von Los Angeles herunter- und dabei quasi dem Zuschauer entgegengeht – sie haben sich bei Massive-Attack-Fans mindestens so tief eingegraben wie die aus den wichtigsten Filmen und Fernsehserien ihres Lebens.
„Blue Lines“ blieb präsent über das gesamte Jahrzehnt hinweg. 1997 zum Beispiel kam aus Bristol ein wegweisendes Drum ’n’ Bass-Album, das sich durchaus interpretieren ließ als Spätneunziger-Version der ersten Massive-Attack-Platte: Reprazent, ein Kollektiv um Roni Size und DJ Krust, lieferten mit „New Forms“ eine jazzige, den aktuellen Verhältnissen angepasste Definition von Soul. Dieses Album war eines der gelungensten Beispiele für die in den Neunzigern so beliebte Konfrontation von digitalen Sounds mit traditioneller schwarzer Musik.
Around The World
„The ultimate collection of Jazz and Afro-Brazilian Grooves.“ So bewirbt das Pariser Label Yellow Productions seine Ende Januar erscheinende Compilation „Bossa Très ... Jazz“. Doch die Musik auf dieser Platte kommt weder aus Brasilien noch aus einem afrikanischen Land, sie steht vielmehr unter dem Motto „When Japan Meets Europe“.
Der Titel der Compilation, ihr Konzept und der Werbeslogan – sie illustrieren eine Entwicklung, die die letzten Jahre geprägt hat: International relevante Popmusik kommt längst nicht mehr ausschließlich aus den angloamerikanischen Staaten, sondern auch aus Frankreich (Disco-House), Japan (Techno, Dancefloor Jazz, digitaler Zitat-Overkill-Pop) oder Deutschland (elektronisches Zeug verschiedener Art). Vor allem deshalb gibt es jetzt viel mehr großartige Musik als früher.
Gute Popmusik kann heute grundsätzlich aus allen Ländern der Ersten Welt kommen, weil dort die Produktionsbedingungen besser geworden sind. „Wenn man in den 80er-Jahren versucht hat, so zu klingen wie Trevor Horn mit Frankie Goes To Hollywood oder Art Of Noise, scheiterte man zwangsläufig. Schließlich war niemand so reich, dass er in einem ultrateurem Studio mit ultrateurem Equipment produzieren konnte. Den Sound einer Beck-Platte dagegen kriege ich auch bei mir zu Hause hin“, sagt Günther Janssen von Donna Regina.
Es ist bezeichnend für die 90er-Jahre, dass die zweite große Platte dieser Zeit aus einem Land kommt, das vor zehn Jahren von der Pop-Welt noch belächelt wurde: Dem französischen House-Duo Daft Punk gelang es 1997 auf seinem Debüt-Album „Homework“, die Energie von Disco und Punk zu bündeln.
Angesichts solcher Hits wie „Da Funk“ und „Around The World“, die beide noch oft im Musikfernsehen laufen, schien plötzlich sogar eine rockistische Vokabel wie „geil“ wieder angemessen zu sein. Und wie sechs Jahre zuvor bei „Blue Lines“ war es schwer, jemanden zu finden, der gegen dieses Album etwas vorzubringen hatte.
Ende der Tribalisierung
„Schubladen können nach Hause gehen!“, hieß es im Info zu „Niun Niggung“, dem 99er Album des Köln-Düsseldorfer Duos Mouse On Mars, dessen komplexe elektronische Musik in den letzten Jahren so manchem Kopfmenschen den Abwasch erleichterte, aber auch Indie-Rockern neue Horizonte eröffnete.
Zahllose Projekte aus dem weiten Umfeld von Postrock und Wohnzimmer-Techno mochten in den späten Neunzigern nichts mehr hören von Schubladen. Sie wollten sowohl mit echten Gitarren arbeiten als auch mit digitalem Equipment. Aber weil Schubladen ja manchmal doch ganz schön sind, erfand der Hamburger Plattenladen „Mythos“ den Begriff „Indietronics“.
Vor allem die Protagonisten der House- und Techno-Szene zeichneten sich dadurch aus, dass sie auf produktive Weise alte Grenzen aufhoben. Die New Yorker House-Veteranen Masters At Work rekrutierten 1997 für ihr Album „Nu Yorican Soul“ diverse alte Männer des Latin Jazz, und Carl Craig, einer der Größen aus der Techno-Mutterstadt Detroit, ließ sich in diesem Jahr mit seinem Innerzone Orchestra von Miles Davis, Sun Ra und Afrobeat-Held Fela Kuti inspirieren. „Ich will Musik machen, die wie eine Blaupause für das nächste Jahrtausend ist“, sagte Craig zu seiner Platte, und diese Großmäuligkeit war sogar gerechtfertigt.
Uh-huh, Uh-huh
Der Mann, der früher Prince hieß, fiel in den 90er-Jahren im wesentlichen durch Pseudonym-Wechsel und eigenwillige Marketingstrategien auf. Dafür hat dieses Jahrzehnt eine Person hervor gebracht, die in der schwarzen Musik heute eine ähliche Rolle spielt wie einst der große Zwerg aus Minneapolis: Missy Elliott, aktiv an nahezu allen Fronten des HipHop- und R & B-Geschäfts.
„You never heard beats like this before“, tönte sie 1997 auf ihrem ersten Album „Supa Dupa Fly“. In der Tat: Missy und ihr kongenialer Partner Timbaland hatten ein völlig neues Design kreiert, geprägt von Klangspielereien, Lautmalereien (das charakteristische „Uh-huh, Uh-huh“) und Beats, die ähnlich komplex waren wie die von avancierten Drum ’n’ Bass-Künstlern. Die große, bis heute unglaublich anmutende Leistung der beiden Pioniere: Sie haben mit ihrer vielschichtigen Musik ein Millionenpublikum erreicht. „Die Radiomusik“ haben sie zwar, entgegen einer Ankündigung Timbalands, noch nicht „revolutioniert“. Aber das wäre wohl auch zu viel verlangt.
Historie wird gemacht
Dank Sampling ließ sich in den 90er-Jahren die gesamte Pop-Historie auf einfache Art abrufen; DJs gierten nach Vinyl-Reissues, um wieder hip gewordene alte Musik in den Clubs spielen zu können; die Majors schlachteten ihre Archive aus und veröffentlichten fleißig historisches Material. All das hatte zwar auch zur Folge, dass wir uns mit zahlreichen schlechten Witzen konfrontiert sahen. Andererseits haben infolge diverser Kurz-Revivals und Mikro-Trends manche Künstler erst in den 90er-Jahren jene gebührende Aufmerksamkeit bekommen, die ihnen während ihrer besten Zeit versagt blieb. Das gilt besonders für Musiker aus dem so genannten Easy-Listening-Genre und für Soundtrack-Produzenten – solche, denen so intelligente Bands wie Stereolab, Pulp, Saint Etienne oder die High Llamas einiges zu verdanken haben.
Wer ist tot?
Was wurde denn eigentlich aus dem großen Song? Nein, er ist nicht tot. Dylan hat 1997 mit „Time Out Of Mind“ sein bestes Album seit den 60er-Jahren gemacht.
Und Jochen Distelmeyer von Blumfeld, der eben diese Platte für die beste der Neunziger überhaupt hält, hat in diesem Jahr ein paar Zeilen gesungen, die alles zum Thema auf den Punkt bringen: „Totgesagt und nicht gestorben, no, no / Forschen wir nach neuen Formen, yeah, yeah.“ Da sei die Rede von der „totgesagten Linken, die ja gar nicht gestorben ist“, sagt Distelmeyer, aber auch von „allen möglichen Formen von totgesagter Musik“. Womit wir beim letzten großen Vorteil wären, den die Neunziger hatten: In dieser Zeit war nichts und niemand wirklich tot.
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