: Von Unrechtsbewusstsein oder Reue keine Spur
■ Christdemokraten wie Manfred Kanther handeln nach der Gewissheit, dass das Wohlergehen der eigenen Partei einziges Unterpfand für das Wohl des Staates Bundesrepublik Deutschland ist
Dieses Drehbuch würde jeder Regisseur, und sei er noch so linksgestrickt, in den Papierkorb pfeffern. Der kantige, kompromisslose Law & Orderman als Gangster – das ist schiere Agitprop, zu primitiv fürs aufgeklärte Publikum. Aber die Wirklichkeit ist noch viel primitiver als die überkommenen Schemata zu ihrer Erklärung.
Manfred Kanther ging es wie manchem seiner verdeckten Ermittler. Er war zu nah an der „OK“. Zwar schützt ihn und seine Mittäter das Parteienprivileg vor der Anklage wg. Mitgliedschaft in einer kriminiellen Vereinigung. Aber es gibt ja noch einen ganzen Sack voller „normaler“ Tatbestände der Wirtschaftskriminalität.
Was beim geständigen Täter am meisten auffällt, ist die Abwesenheit von Unrechtsbewusstsein, von jener zerknirschten Reue, die wir kürzlich noch bei Bill Clinton miterleiden durften. Woher kommt diese Selbstgewissheit, dieses Gefühl, das Richtige getan zu haben? Eiskalter Zynismus? Keinesfalls. Die Geldtransporte wurden im Bewusstsein korrekter Pflichterfüllung durchgeführt. Und dieses Pflichtbewusstsein resultierte aus nichts anderem als der Gewissheit, dass das Wohlergehen der eigenen Partei das einzige Unterpfand für das Wohl des Staates Bundesrepublik Deutschland sei.
Diese Identifikation von Partei und Staat reicht zurück bis in die Gründerzeit der Bundesrepublik, bis in die dreizehn Jahre der Adenauer-Ära. Jenseits der christdemokratischen Regierungsgewalt lauerte „der Untergang Deutschlands“. Die Partei Adenauers glaubte sich im Alleinbesitz der Zauberformel für den Wiederaufstieg Deutschlands. Dass die CDU beanspruchte, die eigentlich legitime Regierungspartei zu sein, erwies sich noch nach 1969. Damals brauchte die Partei fünf Jahre, um sich mit dem Machtverlust abzufinden. Und der Anspruch auf alleinige Regierungsberechtigung flammte wieder auf, als mit dem Machtantritt von Rot-Grün das Ende des Standorts Deutschland und der Ruin der Staatsfinanzen an die Wand gepinselt wurde. Propagandistische Ausrutscher oder alter Alleinvertretungsanspruch?
In der gegenwärtigen Auseinandersetzung wird jetzt – auch von linksliberaler Seite – die Möglichkeit avisiert, die Krise der CDU könne auch ihr Gutes haben: kathartische Effekte. Eben im Gefolge dieser Reinigung würde die Identifikation von Partei und Staat zusammenbrechen, die Adenauer Kohl und dieser weiter an Schäuble vererbt habe. Wenn es mit den „Patriarchen“ und „Gutsherren“ zu Ende ginge, brächen mit deren Abgang auch die Legitimationsgrundlagen der alten CDU zusammen. Damit aber auch der Typus der Gefolgschaftsdemokratie, der für die Handhabung ihres Partei-Staats charakteristisch war. Die Augen der Öffentlichkeit richten sich deshalb auf Angela Merkel, auf die endlich erschienene Jeanne d’Arc und ihr Banner „rückhaltlose Aufklärung.“
Was ist Aufklärung? Der Ausgang aus selbst verschuldeter Unmündigkeit. Wie wird die CDU mündig? Dadurch, dass sie sich von den Potentaten befreit, die ihren königlichen Leib mit dem Leib des Königreichs verwechselten? Besteht rückhaltlose Aufklärung also darin, mit Hilfe der ans Licht gebrachten Verfehlungen der Potentaten den Machtwechsel zu einer stinknormalen konservativ-pragmatischen neuen Führungsgruppe in der CDU zu installieren?
Wie um diese Sicht von vorneherein zu entkräften, hat Angela Merkel ein zweites Banner entrollt: das von der notwendigen „Strukturveränderung“. Ein gefährlicher Begriff, er führt nah an die Wahrheit. Denn eine „rückhaltlose“ Debatte über die Struktur nicht nur der CDU, sondern aller Parteien würde deren Entfremdung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie von den Bedürfnissen der Einwohner zutage fördern. Man antworte nicht, die Parteien seien Fleisch vom Fleisch ihrer Gesellschaft. Oder: Jedem Land die Parteien, die es verdient. Denn es könnte doch sein, dass aus der Parteienkrise ein totgeglaubtes Bedürfnis wiederaufersteht: der Wunsch nach einer partizipatorischen Demokratie.
Christian Semler
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